2019-07-10

Justitias Unzulänglichkeiten

Im Februar hatte ich einen kurzen Berufungsprozess.  Der Angeklagte war am Amtsgericht bereits wegen Drogenverkaufs zu siebzehn Monaten verurteilt worden, und jetzt wurde dieses Urteil angefochten.  Ein Teil der Strafe erklärt sich daraus, dass schon eine Vorverurteilung zu einer Bewährungsstrafe geführt hatte, und die kam jetzt zum Zuge.  Im Raum stand auch eine Unterbringung wegen Drogenabhängigkeit (statt einer Haftstrafe).

Wir haben uns alles noch einmal angehört und am Ende entschieden, dass die Berufung verworfen wird, also das Originalurteil bestehen bleibt.  Ein richtig guter Grund für eine Berufung war eigentlich auch nicht erkennbar.

Man könnte das als einen klassischen Fall von Instanzenreiterei abtun, aber natürlich ist für jeden Angeklagten jeder mögliche Schritt auf dem Rechtsweg eine Chance, seine Situation zu verbessern, zumindest wenn sie derzeit eher schlecht ist.  Oft sind es auch juristische Nebensächlichkeiten, die für die Betroffenen extrem wichtig sein können und die aus Sicht des Gerichts keine große Bedeutung haben.  So muss man sich nicht wundern, wenn die Beteiligten zu schachern versuchen, wie z. B. der Vorschlag, die Berufung zurückzunehmen (und damit allen Beteiligten Arbeit zu ersparen), wenn im Gegenzug eine Haftverschonung erfolgt.  Haftverschonung kann bedeuten, dass man den Job nicht verliert, damit seinen Aufenthaltsstatus usw.

Dafür, dass Justitia blind ist, schaut sie übrigens doch sehr genau hin.  Ein wenig verstörend ist es schon, wenn man bei einem Prozess im Laufe der Tage immer mal wieder als Einschub eine Verlesung eines Urteils zu einer Vorstrafe zu hören bekommt.  Was macht die Blindheit der Gerechtigkeitsgöttin heute noch aus?  Ich denke, das bezog sich ursprünglich auf den Stand der Angeklagten, der in früheren Zeiten relevanter war.  Auch der Graf sollte verurteilt werden, wenn er dem Bettler etwas gestohlen hatte.

Wenn man heute jedoch erwartet, dass die Blindheit im Ansehen der Person bedeutet, dass alle Angeklagten bei gleicher Tat gleiche Strafen erhalten, irrt man.  Je nach Vorstrafen wird man härter oder weniger hart bestraft.  Ich will gar nicht sagen, dass das ungerecht wäre.  Ein Wiederholungstäter sollte tatsächlich schwerer bestraft werden als ein Erstdelinquent.

Ob ein Nigerianer aber auch anders beurteilt wird als ein Deutscher, das weiß ich nicht.  Blind ist Justitia dieser Tatsache gegenüber jedenfalls nicht.  Die Personaldaten werden gründlichst erörtert.  In Zeiten, wo Anonymbewerbungen in der Wirtschaft diskutiert werden, um Vorurteilen weniger Platz einzuräumen, mutet es teilweise eigenartig an, wie sehr die Angeklagten nach reinen Fakten durchleuchtet werden.

Ich versuche, in meinem Blog die eigentlich unwichtigen Informationen über die beteiligten Personen gar nicht erst zu erwähnen.  Das fällt aber schwer, wenn eine der vermutlichen Folgen des Urteils eine Abschiebung im Anschluss an die Haftverbüßung sein wird und man diesen Umstand auch erwähnenswert findet, weil die Strafe für die Tat nun einmal vom Gesetz her nur die Haft ist, nicht »Verbannung«.  Hier gibt es nur beides gemeinsam, und das ist nicht unbedingt gerecht (auch wenn der Täter weiß, was ihm blüht).

Aber das zu erwähnen macht schon klar, dass es sich um einen Ausländer handelt, und das sollte keine Rolle spielen.

Die nächsten beiden angesetzten Termine (März und April) fielen aus.  Das passiert, wenn an den vorgeplanten Terminen keine Prozesse beginnen.  In Berlin werden dann Abladungen verschickt.  Das machen nicht alle deutschen Gerichte so.  Vielerorts tut man als Schöffe gut daran, vor jedem Termin nachzufragen, ob er denn auch tatsächlich stattfindet.  Ein Unding, finde ich.

Im Mai dann startete ein Prozess, bei dem eine Straftat in der Anklage stand, die viele Laien gar nicht richtig zuordnen können.  Dem Angeklagten wurden gleich mehrere Vorfälle zur Last gelegt, denn das Amtsgericht stellte irgendwann fest, dass es mehrere Verfahren gleichzeitig zum selben Angeklagten am Laufen hatte.  In solchen Fällen können alle Anklagen zusammengefasst werden, und wenn es insgesamt schwerwiegend genug ist, wird die Sache ans Landgericht verwiesen.

Beim ersten Vorkommnis hielt der Angeklagte einen Passanten im Park über die Zeit von drei Stunden hinweg vor allem mit Drohungen und Einschüchterungen fest und drangsalierte ihn.  Er erwartete irgendeine Art von Wiedergutmachung für eine vermeintlich erlittene Schmähung, doch der Passant wusste zu keiner Zeit, was er tun sollte.  Im Laufe der Zeit zerschlug der Angeklagte auch eine Flasche, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.  Mit dem Flaschenhals drohte er kurz.

Schließlich forderte der Angeklagte den Passanten auf, in die Wohnung eines nahebei wohnenden Freundes des Passanten zu gehen und gleich wieder herunter zu kommen, damit man zusammen zu einem Geldautomaten gehen könne, wo der Passant Geld abheben und dem Angeklagten geben sollte.  In der Wohnung sollten die Handys vom Passanten und vom Angeklagten zum Aufladen angeschlossen werden.  – Ja, das Ganze mutet ziemlich bizarr an und man fragt sich, was den Angeklagten zu dieser Tat (oder zumindest zu dieser Einzelheit) bewogen haben mag.

Es kam wie es kommen musste.  Der Passant ging zu seinem Freund in die Wohnung und war so eingeschüchtert, dass er tatsächlich gleich wieder hinunter zum Angeklagten gehen wollte.  Doch sein Freund ließ das nicht zu und rief stattdessen die Polizei, die den Angeklagten festnahm.

Was ist das jetzt für eine Straftat?

Ich fragte verschiedene Laien aus meinem Bekanntenkreis und hörte vor allem Nötigung und Freiheitsberaubung.  Und versuchter Raub wegen der Bankautomatengeschichte.  (Eigentlich versuchte räuberische Erpressung.)  Manchmal noch Formulierungen wie »Bedrohung«, »Einschüchterung« oder »Psychoterror«.

Die Anklage lautete allerdings auf erpresserischen Menschenraub.

Darunter versteht der Jurist, wenn jemand sich eines anderen Menschen bemächtigt und das dann ausnutzt, um ihn zur Herausgabe von Sachen oder Geld zu zwingen.  Es ist der Geiselnahme recht ähnlich.

Ich war skeptisch dieser Anklage gegenüber und forschte nach.  Urteile des BGH zum Thema erläutern, dass in der Mitte der 1970er Jahre das Gesetz auf den heutigen Stand gebracht worden war (vorher brauchte es drei Personen für diesen Paragraphen: A bemächtigt sich Bs, um C zu zwingen) und nennen auch den Grund:  Der Auslöser für die damaligen Änderungen war der politischen Situation von Deutschland in der Bekämpfung des RAF-Terrorismus geschuldet.  Auf solche Fälle war das Gesetz gemünzt, und entsprechend war und ist es auch schwer strafbewährt.  Wer einen erpresserischen Menschenraub begeht, bekommt mindestens fünf Jahre.

Eigentlich ist es ja egal, nach welchem Gesetz jemand verurteilt wird, solange die Strafe gerecht ist.  Wenn das Gesetz aber eine sehr hohe Mindeststrafe vorsieht, wird es mit der Gerechtigkeit schwierig.  Die Aufgabe der Schöffen ist auch, das »Volksempfinden« in die Urteile miteinzubringen, damit die Juristen nicht irgendwann in einer Fachblase sitzend die Urteile am Volk vorbei sprechen.  An dieser Stelle ist aber weniger das Gericht das Problem und mehr das Gesetz.  Vielleicht sollte man Laien auch in der Gesetzgebung mit unterbringen.

Unsere Kammer befand schließlich, dass der Angeklagte tatsächlich nach diesem Paragraphen zu verurteilen ist und dass auch nur sehr wenige Umstände für einen minderschweren Fall sprechen (damit kann das Gericht auch unter die fünf Jahre).  Für diesen verbrecherischen Unsinn im Park hat der Angeklagte vier Jahre bekommen.

Die anderen Vorkommnisse (anderer Ort, andere Zeit), bei denen er jemandem das Jochbein zertrümmerte, so dass dieser mehrmals operiert werden musste, traten dahinter tatsächlich zurück.  Ob man das »gerecht« findet, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Insgesamt gab es fünf Jahre und neun Monate für seine Taten.