2020-01-29

Flaute

Als Hauptschöffe bekommt man in Berlin zum Jahresanfang eine Liste mit Terminen, zu denen man bitte erscheinen möge.  In Wirklichkeit sind das aber die Termine, zu denen die einem zugewiesene Kammer vielleicht eine Hauptverhandlung beginnt.

Ich bin an einer »großen Strafkammer«, d. h. an einer Kammer mit drei Berufsrichtern, die bei Hauptverhandlungen zusammen mit zwei Schöffen sitzt. Solche Kammern verhandeln umfangreichere Verfahren, bei denen auch mit etwas höheren Strafen zu rechnen ist.  Vorkommen können alle Delikte, die noch nicht vorsätzliche Tötungsdelikte (Mord, Totschlag usw.) sind (fahrlässige können aber vorkommen, wie wir im nächsten Beitrag sehen werden).  Entsprechend werden oft eine ganze Reihe von Zeugen gehört, und man nimmt sich auch viel Zeit, um alle Fakten gründlich zu würdigen.

In der Konsequenz werden für die meisten Verhandlung gleich mehrere Termine angesetzt und die Zeugen auf diese Termine verteilt.  Als Schöffe erhält man dann einige Wochen vor dem Prozessbeginn eine weitere Erinnerung, in der auch die jetzt angesetzten Hauptverhandlungstage genannt werden.  In der Regel sind die einzelnen Tage nur einige Stunden lang, weil sich regelmäßig im Verlauf des Prozesses etwas ergibt, das zu einer Umplanung führt.  Bestimmte Zeugen werden dann nicht mehr gebraucht, oder eine Verständigung zwischen den Parteien macht eine Abkürzung der Beweisaufnahme möglich.  Wenn um 9:30 begonnen wird, wird oft schon um 13 Uhr wieder vertagt.  Für mich bedeutet das immer, dass ich anschließend noch zu meinem normalen Arbeitgeber fahre.  Nur wenn es später als 16 Uhr wäre, lohnt es sich bei mir nicht mehr.  (Dieses Zeitlimit entscheidet übrigens der Arbeitgeber.)

Allerdings kommt es eben auch vor, dass zu einem der ursprünglich angegebenen Starttermine gar keine Hauptverhandlung beginnt.  Dann erhält man in Berlin eine Abladung und muss nicht erscheinen.  In anderen Bundesländern erfährt man das als Schöffe erst, wenn man vor Ort ist, oder falls man klugerweise vorher anruft.

Vor einigen Monaten erwähnten die Berufsrichter, dass meine Kammer jetzt einen großen Prozess bekäme, bei dem meterweise Akten zu lesen waren, weil es um Autoschiebung im großen Stil mit vielen Vorkommnissen und Gutachten gehe.  Bei solchen Umfangsverfahren kann man dann mit Dutzenden von Verhandlungstagen rechnen, und zudem mit einer Menge Papier im Selbstleseverfahren, bei dem man zu hause Dokumente lesen muss.  Mit gequältem Grinsen sagte mir der Vorsitzende, wenn ich Glück hätte, wäre ich vielleicht Schöffe bei der entsprechenden Hauptverhandlung.  Dazu muss man wissen, dass eine solche Kammer nicht nur ein einzelnes Paar Hauptschöffen hat, sondern gleich mehrere, um die Last auf die Ehrenamtler besser zu verteilen.  Es hing jetzt also davon ab, zu welchem Termin die Hauptverhandlung starten würde.  Wäre das einer der mir zugewiesenen Starttermine, so wäre ich Teil des Prozesses, sonst nicht.

Ich hatte die andere Art Glück, und es traf wohl ein anderes Paar Schöffen dieser Kammer.  Das Umfangsverfahren blieb mir jedenfalls erspart.

Andererseits war meine Kammer mit diesem Verfahren offensichtlich so gut ausgelastet, dass ich seitdem nur noch Absagen für den Rest des Jahres erhalten habe und wenig zu berichten hatte.  Da ich ab 2020 einer anderen Kammer zugewiesen bin, wird mich die Auslastung meiner alten Kammer aber ab dann nicht weiter stören.

2020-01-20

Miami Vice in Kreuzkölln

Wir hatten diesmal einen Hintermann auf der Anklagebank sitzen.  Ein Herr, der sich nicht selbst die Finger schmutzig macht, sondern der organisiert hat, dass andere die Drogen über die Grenzen und nach Berlin bringen.

Zunächst freut man sich da natürlich, weil man sich denkt, dass es mehr bewirkt, solche Täter zu schnappen, als nur die Klein-Dealer von der Straße.  Aber schnell merkt man, dass auch solche Hintermänner noch nicht die großen Fische sind und nur ihren relativ kleinen Teil beitragen.  Am generellen Drogenschmuggel als Phänomen wird es nichts ändern, wenn wir eine hohe Strafe verhängen, dafür scheint dieses Gewerbe zu dezentral zu funktionieren.

Es ging um einige Kilo Heroin, also nicht unerheblich, aber eben weit davon entfernt, durch das Abfangen der Lieferung Berlin irgendwie drogenfreier zu machen.  Unser Täter wurde nicht direkt bei der Tat festgenommen, sondern Monate später in einem anderen Teil Deutschlands.  Da die Drogen aber in Berlin sichergestellt worden waren, wurde der Fall hier verhandelt.

Und der war durchaus filmreif, falls man denn auf chaotische und unglaubwürdige Geschichten steht mit Leuten, die sich undurchdacht verhalten.

Heroin in Plastiksäcken wurde in den Niederlanden in ein Auto verbaut und dann das Auto nach Berlin gefahren.  Dumm nur, dass die Polizei mit Telefonüberwachungsmaßnahmen ständig auf dem Laufenden und bei der Ankunft noch vor dem vorgesehenen Empfänger vor Ort war, die Schmuggler festnahm und Auto und Drogen konfiszierte.  Nach einigen Stunden suchen waren auch die Drogen gefunden.  Ein letzter Beutel wurde tatsächlich erst noch später gefunden, so gut waren die versteckt, und Drogenspürhunde scheinen inzwischen auch keine Wunderwaffe mehr zu sein, jedenfalls ist das mein zweiter Drogenschmuggelfall, wo Hunde nichts mehr gerochen haben.  Vermutlich eine Frage des Aufwandes beim Verpacken.

Der eigentliche Empfänger, unser Angeklagter, kam jedenfalls am Übergabeort an, nur wenige Sekunden nachdem die Polizei Auto und Fahrer eingesackt und schnell weggebracht hatte.  Da über den Empfänger noch nicht genug bekannt war (z. B. war seine Identität noch nicht geklärt, nur seine Handynummer kannte die Polizei), ließ man den erst einmal laufen.  Durch das unerklärliche Verschwinden von Lieferung und Lieferanten kurz nach einem Anruf (»wir sind jetzt da«) war allerdings genügend Unruhe gestiftet worden, so dass der verwirrte Angeklagte schließlich ausreichend deutlich am Telefon über die Situation mit Dritten sprach.

Man könnte meinen, durch unklare Vorgänge wird man vorsichtiger.  Er schien aber gar nicht an einen Polizeieingriff gedacht zu haben, sondern fragte sich nur, wo seine Lieferanten jetzt wohl seien und warum sie nicht mehr ans Telefon gingen.

Für die Richter (und uns Schöffen) bedeutete das, jede Menge Telefonprotokolle lesen zu müssen.  Dafür wurde das sog. »Selbstleseverfahren« angeordnet, d. h. wir haben stapelweise Papier bekommen, das wir zu Hause durchlesen mussten.  Es ist nicht ganz klar, ob man dafür seine eigentliche Arbeit ausfallen lassen darf (und der Verdienstausfall dann entschädigt wird) oder ob das in der unbezahlten Freizeit gelesen werden muss.  Bei noch größeren Mengen wäre es wichtig, das zu klären; hier blieb es bei einigen Stunden Lesezeit, das ging noch abends und direkt nach der Vertagung der Verhandlung.

Die Telefonprotokolle waren auch die reinste Freude.  Offenbar wollten bestimmte Beteiligte einander nicht verstehen, gaben vor, der Mensch mit der passenden Landessprache sei nicht anwesend usw.  Wir hatten natürlich die deutschen Übersetzungen der Gespräche, schlau wurde man aus dem Gesagten aber nicht immer.  Und teilweise war es geradezu komisch, mit welch naiven Mitteln die Täter verräterische Begriffe zu vermeiden suchten.

So wurde ein Kilo Heroin z. B. als »Auto« bezeichnet.  Das mag so noch angehen.  Wenn jemand am Telefon sagt, er habe ein Auto mitgebracht, okay, das könnte theoretisch bewirken, dass eine mögliche Überwachung wieder eingestellt werden muss, weil keine offensichtlich strafrechtlich relevanten Gespräche geführt werden.  Hier wurde aber von einem halben Auto berichtet, das jemand dabei habe.  Da geht es dann entweder um sehr leichten Schrott oder um etwas, das mit Autos gar nichts zu tun hat.  Die mit den Fällen betrauten Polizisten jedenfalls schienen bei allen verwendeten Schutzbegriffen immer genau zu wissen, was diese bedeuteten.

Gegen unseren Angeklagten liefen bereits mehrere Verfahren.  Um die Sache insgesamt zu beschleunigen, wurde mit Zustimmung aller Seiten eine Regelung gefunden, die es zuließ, dass das andere Verfahren eingestellt und dafür in unserem das Strafmaß entsprechend erhöht wurde.  Das juristisch sauber zu regeln, ist eine Kunst für sich.

Für mich war noch ein wenig unheimlich an dem Fall, dass ich alle beteiligten Orte der Tat in Kreuzberg und Neukölln kannte und eine persönliche Beziehung zu ihnen hatte.  Entweder, es war in der Straße, wo ich mich hin und wieder mit Freunden treffe, oder es war bei einem ehemaligen Arbeitgeber um die Ecke.  Da beginnt man sich zu fragen, was noch so alles in der eigenen Umgebung passiert, das man nie erfährt.

Im Ergebnis gab es meine bisher höchste verhängte Strafe: acht Jahre Haft.

2020-01-14

Wahrheitsfindung light

Man gewöhnt sich mit der Zeit daran, dass man nicht herausbekommt, was tatsächlich passiert ist.  Man ergründet im Hauptverfahren vor allem, welche Punkte beweisbar sind.  Oft ist mehr oder weniger klar, dass das nicht die einzige Tat gewesen sein kann.  (Wer dealt schon nur einmal mit Drogen und wird sofort geschnappt, und wer schmuggelt nur einmal, obwohl er dieselbe Tour nachweislich schon zehnmal geflogen ist?)  Aber es ist eben die einzige nachweisbare Tat.  Und tatsächlich herrscht unter den Richtern, die ich kennengelernt habe, diesbezüglich eine etwas lakonische Stimmung vor.  Klar, man ahne schon, dass der Täter mehr gemacht hat, aber hier wird eben nur diese eine Tat verhandelt.  Alles Nichtbeweisbare bleibt auch emotional außen vor.

Die meisten Angeklagten am Landgericht stehen dem Gericht auch nie direkt Rede und Antwort.  Sie haben alle einen Anwalt, der sie abschirmt und alle ihre Äußerungen filtert, in der Regel vorbereitet.  Es werden dann ›Einlassungen‹ verlesen, in der Regel am nächsten Verhandlungstag, denen man anhört, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt worden ist.  Will man eine spezielle Frage an den Angeklagten richten, hat man in der Regel nie Gelegenheit dazu.

Gut, theoretisch könnte man das als Schöffe im Anschluss an jede Einlassung machen – wir haben ein Fragerecht –, aber es ist klar, dass die Anwälte ihren Mandanten dazu raten würden, nichts Weitergehendes auszusagen, weil es dann ungefiltert und ungoldabgewogen daher käme.  Bei einem längeren improvisierten Schlusswort eines Angeklagten gab es schon entsprechende Gesten vom rechtlichen Beistand, der Redeschwall möge doch abebben.

In einem meiner letzten Fälle war der Unterschied zwischen dem Finden des gerichtsfest Beweisbaren und der Wahrheitsfindung besonders deutlich.

Es ging laut Anklage um schwere Vergewaltigung und Körperverletzung.  Die Verlesung des Staatsanwaltes listete detaillierte Einzelheiten auf, die brutal und unappetitlich waren.  Die genannten Details stammten aus Protokollen von Polizisten, die die Frau befragt hatten, nachdem ihr verletztes Gesicht aufgefallen war und sie gedrängt worden war, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen.

Doch die Frau ist auch die Verlobte des Angeklagten und hat als solche ein Zeugnisverweigerungsrecht, von dem sie nun doch Gebrauch machte.  Das bedeutet, dass auch die Protokolle der Aussagen bei den Polizisten nicht verwertet werden dürfen, und ebenso dürfen die Aussagen der Polizisten über die Vernehmungen nicht berücksichtigt werden.

Es blieb also nur die Körperverletzung als das gerichtsfest Beweisbare, denn von den blauen Flecken gab es Fotos, und Zeugen hatten diese gesehen.

Natürlich ahnt man in so einem Fall, dass mehr passiert sein wird, und zwar in einem Ausmaß, das an Wissen grenzt.  Aber es ist eben doch nicht genug für ein Strafgericht, und somit darf man es nicht ins Strafmaß einfließen lassen.  Und natürlich ist das in der Anklage Geschilderte keineswegs sicher.  Es lassen sich viele Szenarien denken, in denen so eine belastende Aussage gar nicht der Wahrheit entspricht oder Wesentliches (Entlastendes) weggelassen hat.

Die mögliche Zeugnisverweigerung der Hauptbelastungszeugin war schon in der Vorbesprechung zu dem Fall vage Thema.  Dennoch war die Verhandlung auf etliche Tage angesetzt – und musste schließlich drastisch gekürzt werden.  Wir haben uns noch redlich um weitere Zeugen bemüht, aber hin und wieder passt einfach nichts.

So hieß es zum Beispiel, die Nachbarin habe der Geschädigten nach der Tat beigestanden und sie zum Krankenhaus begleitet.  Da man annehmen konnte, dass sie dann auch die Verletzungen bezeugen könnte, wurde sie also geladen.

Die Zeugin, die dann erschien, war auch durchaus die Nachbarin der Geschädigten.  Es stellte sich aber schnell heraus, dass sie die falsche Nachbarin war.  Eine andere muss die gewesen sein, die damals geholfen hat.  Die erschienene Zeugin hingegen war zum Zeitpunkt der Tat verreist gewesen.  Aus den Akten war nicht so genau ersichtlich, wer die richtige Zeugin gewesen wäre.

In Filmen würde dann die Polizei wieder aktiv, die richtige Nachbarin ermittelt und anschließend die Verhandlung mit einer Ladung fortgesetzt.  In der real existierenden Berliner Gerichtsbürokratie war die Polizeiarbeit beendet, diese Akten geschlossen.  Die richtige Zeugin zu ermitteln kam nicht in Frage, es wäre viel zu aufwändig gewesen, der Nutzen zu klein, jetzt, wo sich Täter und Geschädigte ohnehin wieder vertragen hatten.

Im Ergebnis haben wir hier noch eine Weile darüber nachgedacht (und Zeugen gehört), inwieweit der Angeklagte vielleicht im Vollrausch war (eher nicht, obwohl teilweise konsumierte Mengen angegeben waren, die 3,7‰ ergeben hätten) oder zumindest alkoholisch beeinflusst war.

Nach Abwägung aller Umstände kam eine geringe Strafe heraus, die schon durch die bereits abgesessene U-Haft abgegolten war, so dass der Täter direkt auf freien Fuß und in die Arme seiner Verlobten kam.

Man fragt sich, ob es der jungen Familie wirklich gut tat, dass sie wieder vereint war.  Und ob andererseits eine Haftstrafe wirklich irgend etwas verbessert hätte.  Bei derartigen Umständen sind Gerichte vielleicht einfach die falschen Institutionen.