2019-07-10

Justitias Unzulänglichkeiten

Im Februar hatte ich einen kurzen Berufungsprozess.  Der Angeklagte war am Amtsgericht bereits wegen Drogenverkaufs zu siebzehn Monaten verurteilt worden, und jetzt wurde dieses Urteil angefochten.  Ein Teil der Strafe erklärt sich daraus, dass schon eine Vorverurteilung zu einer Bewährungsstrafe geführt hatte, und die kam jetzt zum Zuge.  Im Raum stand auch eine Unterbringung wegen Drogenabhängigkeit (statt einer Haftstrafe).

Wir haben uns alles noch einmal angehört und am Ende entschieden, dass die Berufung verworfen wird, also das Originalurteil bestehen bleibt.  Ein richtig guter Grund für eine Berufung war eigentlich auch nicht erkennbar.

Man könnte das als einen klassischen Fall von Instanzenreiterei abtun, aber natürlich ist für jeden Angeklagten jeder mögliche Schritt auf dem Rechtsweg eine Chance, seine Situation zu verbessern, zumindest wenn sie derzeit eher schlecht ist.  Oft sind es auch juristische Nebensächlichkeiten, die für die Betroffenen extrem wichtig sein können und die aus Sicht des Gerichts keine große Bedeutung haben.  So muss man sich nicht wundern, wenn die Beteiligten zu schachern versuchen, wie z. B. der Vorschlag, die Berufung zurückzunehmen (und damit allen Beteiligten Arbeit zu ersparen), wenn im Gegenzug eine Haftverschonung erfolgt.  Haftverschonung kann bedeuten, dass man den Job nicht verliert, damit seinen Aufenthaltsstatus usw.

Dafür, dass Justitia blind ist, schaut sie übrigens doch sehr genau hin.  Ein wenig verstörend ist es schon, wenn man bei einem Prozess im Laufe der Tage immer mal wieder als Einschub eine Verlesung eines Urteils zu einer Vorstrafe zu hören bekommt.  Was macht die Blindheit der Gerechtigkeitsgöttin heute noch aus?  Ich denke, das bezog sich ursprünglich auf den Stand der Angeklagten, der in früheren Zeiten relevanter war.  Auch der Graf sollte verurteilt werden, wenn er dem Bettler etwas gestohlen hatte.

Wenn man heute jedoch erwartet, dass die Blindheit im Ansehen der Person bedeutet, dass alle Angeklagten bei gleicher Tat gleiche Strafen erhalten, irrt man.  Je nach Vorstrafen wird man härter oder weniger hart bestraft.  Ich will gar nicht sagen, dass das ungerecht wäre.  Ein Wiederholungstäter sollte tatsächlich schwerer bestraft werden als ein Erstdelinquent.

Ob ein Nigerianer aber auch anders beurteilt wird als ein Deutscher, das weiß ich nicht.  Blind ist Justitia dieser Tatsache gegenüber jedenfalls nicht.  Die Personaldaten werden gründlichst erörtert.  In Zeiten, wo Anonymbewerbungen in der Wirtschaft diskutiert werden, um Vorurteilen weniger Platz einzuräumen, mutet es teilweise eigenartig an, wie sehr die Angeklagten nach reinen Fakten durchleuchtet werden.

Ich versuche, in meinem Blog die eigentlich unwichtigen Informationen über die beteiligten Personen gar nicht erst zu erwähnen.  Das fällt aber schwer, wenn eine der vermutlichen Folgen des Urteils eine Abschiebung im Anschluss an die Haftverbüßung sein wird und man diesen Umstand auch erwähnenswert findet, weil die Strafe für die Tat nun einmal vom Gesetz her nur die Haft ist, nicht »Verbannung«.  Hier gibt es nur beides gemeinsam, und das ist nicht unbedingt gerecht (auch wenn der Täter weiß, was ihm blüht).

Aber das zu erwähnen macht schon klar, dass es sich um einen Ausländer handelt, und das sollte keine Rolle spielen.

Die nächsten beiden angesetzten Termine (März und April) fielen aus.  Das passiert, wenn an den vorgeplanten Terminen keine Prozesse beginnen.  In Berlin werden dann Abladungen verschickt.  Das machen nicht alle deutschen Gerichte so.  Vielerorts tut man als Schöffe gut daran, vor jedem Termin nachzufragen, ob er denn auch tatsächlich stattfindet.  Ein Unding, finde ich.

Im Mai dann startete ein Prozess, bei dem eine Straftat in der Anklage stand, die viele Laien gar nicht richtig zuordnen können.  Dem Angeklagten wurden gleich mehrere Vorfälle zur Last gelegt, denn das Amtsgericht stellte irgendwann fest, dass es mehrere Verfahren gleichzeitig zum selben Angeklagten am Laufen hatte.  In solchen Fällen können alle Anklagen zusammengefasst werden, und wenn es insgesamt schwerwiegend genug ist, wird die Sache ans Landgericht verwiesen.

Beim ersten Vorkommnis hielt der Angeklagte einen Passanten im Park über die Zeit von drei Stunden hinweg vor allem mit Drohungen und Einschüchterungen fest und drangsalierte ihn.  Er erwartete irgendeine Art von Wiedergutmachung für eine vermeintlich erlittene Schmähung, doch der Passant wusste zu keiner Zeit, was er tun sollte.  Im Laufe der Zeit zerschlug der Angeklagte auch eine Flasche, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.  Mit dem Flaschenhals drohte er kurz.

Schließlich forderte der Angeklagte den Passanten auf, in die Wohnung eines nahebei wohnenden Freundes des Passanten zu gehen und gleich wieder herunter zu kommen, damit man zusammen zu einem Geldautomaten gehen könne, wo der Passant Geld abheben und dem Angeklagten geben sollte.  In der Wohnung sollten die Handys vom Passanten und vom Angeklagten zum Aufladen angeschlossen werden.  – Ja, das Ganze mutet ziemlich bizarr an und man fragt sich, was den Angeklagten zu dieser Tat (oder zumindest zu dieser Einzelheit) bewogen haben mag.

Es kam wie es kommen musste.  Der Passant ging zu seinem Freund in die Wohnung und war so eingeschüchtert, dass er tatsächlich gleich wieder hinunter zum Angeklagten gehen wollte.  Doch sein Freund ließ das nicht zu und rief stattdessen die Polizei, die den Angeklagten festnahm.

Was ist das jetzt für eine Straftat?

Ich fragte verschiedene Laien aus meinem Bekanntenkreis und hörte vor allem Nötigung und Freiheitsberaubung.  Und versuchter Raub wegen der Bankautomatengeschichte.  (Eigentlich versuchte räuberische Erpressung.)  Manchmal noch Formulierungen wie »Bedrohung«, »Einschüchterung« oder »Psychoterror«.

Die Anklage lautete allerdings auf erpresserischen Menschenraub.

Darunter versteht der Jurist, wenn jemand sich eines anderen Menschen bemächtigt und das dann ausnutzt, um ihn zur Herausgabe von Sachen oder Geld zu zwingen.  Es ist der Geiselnahme recht ähnlich.

Ich war skeptisch dieser Anklage gegenüber und forschte nach.  Urteile des BGH zum Thema erläutern, dass in der Mitte der 1970er Jahre das Gesetz auf den heutigen Stand gebracht worden war (vorher brauchte es drei Personen für diesen Paragraphen: A bemächtigt sich Bs, um C zu zwingen) und nennen auch den Grund:  Der Auslöser für die damaligen Änderungen war der politischen Situation von Deutschland in der Bekämpfung des RAF-Terrorismus geschuldet.  Auf solche Fälle war das Gesetz gemünzt, und entsprechend war und ist es auch schwer strafbewährt.  Wer einen erpresserischen Menschenraub begeht, bekommt mindestens fünf Jahre.

Eigentlich ist es ja egal, nach welchem Gesetz jemand verurteilt wird, solange die Strafe gerecht ist.  Wenn das Gesetz aber eine sehr hohe Mindeststrafe vorsieht, wird es mit der Gerechtigkeit schwierig.  Die Aufgabe der Schöffen ist auch, das »Volksempfinden« in die Urteile miteinzubringen, damit die Juristen nicht irgendwann in einer Fachblase sitzend die Urteile am Volk vorbei sprechen.  An dieser Stelle ist aber weniger das Gericht das Problem und mehr das Gesetz.  Vielleicht sollte man Laien auch in der Gesetzgebung mit unterbringen.

Unsere Kammer befand schließlich, dass der Angeklagte tatsächlich nach diesem Paragraphen zu verurteilen ist und dass auch nur sehr wenige Umstände für einen minderschweren Fall sprechen (damit kann das Gericht auch unter die fünf Jahre).  Für diesen verbrecherischen Unsinn im Park hat der Angeklagte vier Jahre bekommen.

Die anderen Vorkommnisse (anderer Ort, andere Zeit), bei denen er jemandem das Jochbein zertrümmerte, so dass dieser mehrmals operiert werden musste, traten dahinter tatsächlich zurück.  Ob man das »gerecht« findet, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Insgesamt gab es fünf Jahre und neun Monate für seine Taten.

2019-01-30

Sechseinhalb Jahre

Mein erster Prozess ist vorüber, er hatte vier Hauptverhandlungstage. Auf Arbeit hat mich jemand auf Zeitungsartikel zu dem Fall hingewiesen. Googelt man nach »Tegel« und »Kokain«, so findet man z. B. diesen Artikel der BZ.

Aber von vorne. An meinem ersten Tag erscheine ich pünktlich bei Gericht. Eine Einführungsveranstaltung – anderswo durchaus üblich – hat es in Berlin vorher nicht gegeben. Wer sich nicht selbst um Informationen bemüht, weiß nicht mehr als den Termin und was im Merkblatt steht. Der Einlass im Kriminalgericht Moabit (so der althergebrachte Name des Landgerichts) ist erfreulich unkompliziert. Es gibt am Haupteingang einen Extradurchgang für Mitarbeiter (auch Schöffen), der ohne Sicherheitscheck auskommt und wenig Andrang hat. Danach ist man in der Haupthalle. Ihre kathedralenartige Architektur verlangt einem Ehrfurcht ab. Hat man nichts zu befürchten, so ist sie beeindruckend. Kommt man als Angeklagter, kann man schnell eingeschüchtert sein. Hat unser Rechtssystem das nötig, und verträgt es sich mit dem Grundsatz in dubio pro reo? Einschüchterung ist noch keine Strafe.

Und es bleibt so. Besonders kundenfreundlich ist hier nichts. Wer wissen will, wo er jetzt hin muss, sagt seine Raumnummer am besten einem Uniformierten, denn Hinweisschilder sind spärlich gesät und Gebäudepläne erst zu sehen, wenn man einen Gang schon ein Dutzend Meter weit hineingegangen ist. (Im Internet finden sich natürlich auch keine.) Und dann sind auch nur die Raumnummern der Hälfte des aktuellen Stockwerks zu sehen. Saalnummern lassen zudem nur Eingeweihte das Stockwerk erraten.

Als ich meinen Saal schließlich finde, hängen dort vier DIN-A4-Blätter als Kette am Pinbrett, die eine Verlegung in einen anderen Saal verkünden, den ich aufsuche, doch von dort werde ich sodann wieder zurückgeschickt. Die Verlegung betrifft eine andere Verhandlung, erkennbar an einem Aktenzeichen – aha. Ich weiß noch nicht, welche Verhandlung meine sein wird, kenne also keine Aktenzeichen. Ich bin früh dran, da stört mich das Laufen nicht.

Schließlich finde ich meine Strafkammer, drei Berufsrichter_innen und eine Mitschöffin. Der Umgangston ist freundlich, doch als Ehrenamtler merkt man schnell, dass man Rad Nummer vier und fünf in dem Vorgang ist. Die Profis würden den Fall problemlos auch ohne uns zu beurteilen wissen und unterhalten sich vorrangig untereinander. Verständlich, denn es sind Kollegen, und oft geht es auch um Banales aus der Arbeitswelt, oder Details werden erörtert, die aus den Akten stammen, die wir Schöffen nicht lesen, und daher nicht gut mitreden können. Dennoch, wenn ich etwas zu sagen habe, hören alle zu, und wenn ich Fragen stelle, wird gerne und umfänglich erklärt.

Fallbezogene Beratungen im Richterzimmer bleiben lebenslang geheim, und dorthin ziehen wir uns jetzt zurück. Als wir wieder herauskommen und den gut gefüllten Gerichtssaal betreten, weiß ich endlich etwas über den Fall, den wir verhandeln werden. Wir Schöffen leisten vor versammelter Mannschaft inklusive Publikum unseren Eid, dann wird die Verhandlung eröffnet.

Ein älterer Mann hat mutmaßlich Kokain von Berlin nach Israel geschmuggelt. Das hochreine Koks in seinem Koffer ist bei Stichproben entdeckt worden. Unklar ist lediglich, inwieweit er wusste, was er da transportiert. Die Menge ist erheblich, der Strafrahmen laut Gesetz liegt daher bei zwei bis 15 Jahren. Der Angeklagte ist gesundheitlich angeschlagen, sein Deutsch gebrochen, ihm assistiert einen Dolmetscher.

Angeklagte im Kriminalgericht Moabit können aus der angrenzenden U-Haftanstalt durch besondere Gänge und über eine eigene Treppe direkt bis in den Gerichtssaal gebracht werden. Anwälte, Richter, Dolmetscher, Zeugen, Zuschauer – sie alle trifft man auch mal im Gang vor dem Saal, grüßt sie verhalten – man darf ja nicht befangen wirken, also sind Gespräche knapp. Nicht so den Angeklagten. Wie Raubkatzen im Zirkus wird er auf verschlungenen Pfaden in den Saal geschleust. Justitia soll blind sein, keine persönliche Beziehung zum Objekt des Bewertungsprozesses aufbauen. Ich werde das Gefühl nicht los, einen Menschen besser beurteilen zu können, wenn ich ihn auch mal außerhalb des Gerichtssaales beobachten kann.

Der Staatsanwalt verliest die offizielle Anklage. Eine der ersten Handlungen des Vorsitzenden ist die Erwähnung von im Raume stehenden Vorschlägen zu einem Deal zwischen den Parteien.

Absprachen dienen der Verkürzung der Prozesse, da ein Großteil der Zeit für die Beweisaufnahme dann entfallen kann. Sie sind legal und üblich. Ein Angeklagter legt ein Geständnis ab, dafür halten Staatsanwaltschaft und Richterschaft einen vereinbarten Strafrahmen ein. Ist ein Schöffe aber nicht an den Absprachen beteiligt, haben diese keine bindende Wirkung für ihn, daher müssen Deals offiziell in die Hauptverhandlung einfließen.

Doch der Angeklagte mag nicht zustimmen. Bei seinem Alter scheint ihm die in Aussicht gestellte Haftstrafe so lang, dass er darin keine Perspektive sieht. Also beginnt die Verhandlung.

Ein Zeuge wird aufgerufen. Es ist der Zollbeamte, der die Drogen entdeckte. Details des Schmuggels werden erläutert, Asservate (Beweismittel, hier: der Koffer) werden in Augenschein genommen. Allmählich erst formt sich bei uns Schöffen ein Bild der Abläufe. Mutmaßliche Komplizen werden namentlich erwähnt, verschiedene frühere Reisen. Ich notiere alle mir wichtig scheinenden Punkte. Es werden schnell viele. Dann wird der Zeuge entlassen und die Verhandlung unterbrochen.

In den Pausen ziehen wir Richter uns ins Richterzimmer zurück, aber dann machen wir auch eine Essenspause. Die Kantine ist in einem Anbau, und so lange man jemandem folgen kann, findet man sie. Hinweisschilder gibt es nicht, und die spärlichen Gebäudepläne reichen nicht weit genug. Ich habe eigentlich vor, das Gebäude auch mal zu verlassen, doch da ich meine Sachen im Richterzimmer gelassen habe, könnte ich mich beim Zurückkehren nicht ausweisen. Ich riskiere das nicht und warte im Gericht.

Wie sich herausstellt, sind bereits jetzt sieben Hauptverhandlungstage für diesen Fall angesetzt. Die nächsten sind bereits in wenigen Tagen, zum Ende hin dünnt es sich aus, reicht bis in den März hinein. Mein Arbeitgeber wird sich freuen. Mehrtage im einen Prozess werden nicht später ausgeglichen, und Prozesse meiner Strafkammer werden in der Regel mehrtägig sein. Es kann aber sein, dass an einigen der im letzten Dezember bereits genannten Starttermine kein Prozess startet, dann werden die Schöffen abgeladen.

Nach der Pause folgen noch zwei weitere Zeugen aus dem Ermittlerkreis, dann wird vertagt. Es ist kurz nach zwei.

Ich gehe mit einem gewissen emotionalen Druck durch die nächsten Tage. Mir ist bewusst geworden, dass man als Richter Verantwortung für die absichtliche Beschädigung eines Lebens hat, um der Gesellschaft beim Funktionieren zu helfen. Kiloweise Kokain unter die Leute zu bringen, ist zerstörerisch für die Konsumenten und befördert weitere Verbrechen. Ich bin noch von Narcos beeindruckt. Irgendwo kommt das Kokain schließlich her.

Andererseits ist der Angeklagte so schweigsam, wissen wir über ihn bisher so wenig als Mensch, dass nicht auszuschließen ist, dass er keine Ahnung hatte, was er da transportiert. Und er ist so alt, dass bei ihm die »Strafempfindlichkeit« erhöht ist. Und überhaupt, wenn nicht er den Kurier spielt, findet sich ein anderer. Man hat ja nur einen kleinen Fisch erwischt. Denn dass es Hintermänner gibt, die ihn für die Reisen bezahlen, ist ziemlich eindeutig.

Es gibt keine offizielle Kleiderordnung, doch man liest, man solle ordentlich gekleidet kommen. Ich kann es inzwischen gut nachvollziehen. Mit dem, was man da tut, ist Schlampigkeit – und wenn sie auch nur so scheint – schwer zu vereinbaren. Ich will tatsächlich nicht, dass ein Angeklagter von einem Typ im Nerd-T-Shirt mit lustigem Spruch darauf für Jahre ins Gefängnis geschickt wird.

Ich habe noch nie in einem Umfeld mit solch ernstem Charakter gewirkt. Noch nie war Humor so wenig angemessen wie hier. Als einmal während der Verhandlung die Gerichtsschreiberin neben mir kichern muss und sich dafür hinter ihrem Bildschirm versteckt, wird mir dieses Spannungsfeld deutlich.

Ich habe noch mein anderes Leben, in dem Leichtigkeit der Normalton und Humor stärker vertreten ist. Im Gericht werde ich alle paar Wochen einen Menschen bewerten und in sein Leben eingreifen müssen. Das ist okay, doch ich würde es nicht viel häufiger haben wollen. Wenn es im Gericht um einen Fall geht, ist Humor in der Regel auf Sarkasmus und Zynismus beschränkt, so kommt keine Lächerlichkeit auf.

Am zweiten Verhandlungstag stimmt der Angeklagte dem im Raum stehenden Deal schließlich doch zu. Sein Geständnis ist ein Text, den sein Anwalt verliest und der Raum lässt, um ein gewisses Maß an Unwissenheit ob des Inhaltes des Koffers zu vermuten. Ihm sei Bezahlung versprochen worden, doch Geld habe er nicht erhalten.

Das Gericht kann Gelder »einziehen«. Wenn offensichtlich ist, dass jemand Geld mit einer Straftat erlangt hat, kann das Urteil umfassen, dass er dieses abgeben muss. »Eingezogen« heißt nicht unbedingt, dass das Geld auch gefunden und eingetrieben werden kann. Im Verlauf dieser Verhandlung steht ein Betrag von etwa 125.000 Euro als mutmaßliche Bezahlung des Angeklagten für seine Schmuggeltätigkeiten im Raum, doch da kein Geld gefunden wurde und auch keine entsprechenden klaren Beweise, werden am Ende keine wesentlichen Geldmengen eingezogen. Man kann mutmaßen, dass hier ein Walter White zwar geschnappt worden ist, sein Ziel vielleicht aber doch irgendwie erreicht hat.

Wenn ein Geständnis im Raum steht, muss das Gericht dieses noch auf Plausibilität prüfen, sonst ist der Prozess zu leicht anfechtbar. Daher hören wir an diesem Tag noch einen der Hauptermittler als Zeugen und am dritten Tag werden eine Reihe von Dokumenten (Gutachten zur gefundenen Substanz usw.) vom Vorsitzenden komplett verlesen.  (»Urkunden einführen« nennen die Berufsrichter das.)  Man gewinnt den Eindruck, dem gesprochenen Wort werde eine magische Wirkung zuerkannt. Besonders bei Tabellen macht das Verlesen der Zahlen so wenig kommunikativen Sinn, dass man sich ein anderes Verfahren wünscht. Man lässt es über sich ergehen und fragt sich, wie solcher Unsinn sich im Umfeld von so vielen klugen Köpfen etablieren und halten konnte.

Am vierten Tag hören wir noch einen letzten Zeugen, dann werden Vorstrafen vom Angeklagten verlesen, und schließlich möchte auch der Angeklagte sich noch zu seinem Lebenslauf äußern. Er hätte das nicht gemusst, doch für uns ist es eine Gelegenheit, wenigstens ein wenig über ihn zu erfahren. Wohlgemerkt wird das Wenigste davon geprüft. Wenn der Angeklagte seine Schulbildung oder ein Studium nennt, kann das gelogen sein, und das Gericht wird es nicht erfahren. Aber man kann sich ein wenig ein Bild von einem Lebenslauf machen, wo vorher nur eine sehr anonyme und lückenhafte Person bekannt war. Zum Fall selbst äußert er sich nicht näher, weil noch andere Verfahren anhängig sind.

Dann folgen die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidigung, das letzte Wort des Angeklagten (sehr kurz), und wir Richter ziehen uns zurück.

Der Deal lautet auf sechs bis sieben Jahre. Wir folgen schließlich dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilen den Angeklagten zu sechseinhalb Jahren Haft.

Inzwischen hat sich das Gefühl breit gemacht, dass das Urteil sich irgendwie von alleine ergeben habe, dass es sich herauskristallisiert und man als Richter nicht mehr wirklich eine Entscheidung gefällt habe. Sicher war der Deal eine Erleichterung, und auch das Wissen, dass ein Verbrecher in Deutschland nur so lange in Haft bleibt, wie ihm das gesundheitlich zuzumuten ist. Doch es bleibt dabei, dass man das Urteil mit verantwortet. Bei Prozessen mit weniger Konsens wird es vermutlich schwieriger.

2019-01-16

Schöffenbürokratie

Heute wird's dröge.  Es geht um Bürokratie.  Wenn das jemanden abschreckt:  Das nächste Mal werde ich vermutlich über den ersten echten Tag am Gericht berichten, das ist dann vermutlich interessanter.  Aber der Reihe nach.

Zuerst ein paar Antworten auf ein paar der beim letzten Mal unbeantworteten Fragen:
  • Hauptschöffen, Hilfsschöffen, Ergänzungsschöffen, Ersatzschöffen
    Gewählt wird man entweder als Hauptschöffe oder als Hilfsschöffe für die fünf Jahre der Schöffenperiode.
    • Die Hauptschöffen sind mit festen Gerichtsterminen ausgestattet und werden regelmäßig bei Verfahren eingesetzt.  Nur wenn Prozesse sich hinziehen, kommen dadurch Termine hinzu. 
    • Hilfsschöffen sind die Stille Bereitschaft.  Sobald ein Schöffe spontan gebraucht wird, wird ein Hilfsschöffe verpflichtet (z. B. bei Krankheit eines Hauptschöffen oder wenn ungeplante Prozesse stattfinden).  Hin und wieder dünnt sich die Liste der Hauptschöffen derart aus (durch Wegzug, Krankheit usw.), dass einige der Hilfsschöffen in die Hauptschöffenliste wechseln.
    • Bei voraussichtlich langwierigen Prozessen werden Ergänzungsschöffen dem Prozess beigeordnet.  Das sind Hilfsschöffen, die der Verhandlung passiv beiwohnen und als Ersatz herhalten müssen, sollte ein Hauptschöffe ausfallen.  Fällt keiner aus, bleiben die Ergänzungsschöffen passive Zuschauer über den gesamten Prozess hinweg.
    • Als Ersatzschöffe wird manchmal ein Ergänzungsschöffe bezeichnet, der zum Einsatz kommt.
Jetzt aber zum eigentlichen Thema: Gehaltserstattung.  Sagte ich schon, dass es bürokratisch wird?

Ist man Schöffe, wird man zu Gerichtsverhandlungen vorgeladen.  Zu diesen muss man erscheinen, ein Nichterscheinen braucht wirklich gute Gründe (Stichwort Amtsarzt), sonst kann das teuer werden.  Wenn man vor Gericht ist, ist man nicht auf der Arbeit.  Arbeitgeber bezahlen einen nicht so gerne, wenn man gar nicht anwesend ist.

Um das entgangene Gehalt auszugleichen, gibt es eine Vielzahl an Regelungen, vom Hausmann bis zur Selbständigen, von der Frau in der Babyzeit bis zum Arbeitslosen.  Mich betrifft nur der Standardfall des Angestellten, also eigentlich eine einfache Sache.

Allerdings stellte mein Arbeitgeber nun fest, dass es (bei wenig umfangreichen Verfahren) eine Deckelung der Erstattung bei 24€ Brutto-Stundenlohn gibt, und da bin ich drüber. – Ja wie jetzt.  Und jetzt?  Ich stellte mich schon mental darauf ein, pro Stunde im Gericht draufzuzahlen.  Das hatte ich nicht erwartet.

Nach einigem Hin und Her stellte sich dann aber heraus, dass es eine Regelung im §616 BGB gibt, die Arbeitgeber verpflichtet, Arbeitnehmer bei unverschuldeten kurzen Abwesenheiten weiter voll zu bezahlen.  Schöffentätigkeiten fallen darunter.  Die Gehaltserstattung ist so gesehen also nur eine Linderung des gesetzlich vorgesehenen Verlustes des Arbeitgebers.

Zusätzlich bekommen Schöffen übrigens noch 6€ pro Stunde unabhängig von der Gehaltserstattung.  Also doch reich durch Rechtsprechung.

Das ganze ist hier jetzt vereinfacht dargestellt, um den Umfang des Posts nicht zu sprengen.  In Wirklichkeit spielen noch Dinge eine Rolle wie Abtretungserklärungen, Steuer- und Sozialabgaben, Anträge an den Arbeitgeber, Verdienstausfallbescheinigungen, Auszahlungsaufträge, …  (Bei Interesse bitte nachfragen.  Es wird aber wirklich nur noch dröger.)

Insbesondere werde ich für jeden Termin einzeln Formulare bei Gericht einreichen müssen, auf denen wieder alles eingetragen ist, und jedes Mal wird mein Arbeitgeber wieder etwas unterschreiben müssen.  Dokumente, die das einmal für die gesamten fünf Jahre regeln würden, können »hier aus organisatorischen Gründen nicht abgelegt werden« (so die Berechnungsstelle des Gerichts).



An dieser Stelle muss ich meinen Dank an etliche Quellen aussprechen, die mir wirklich sehr weitergeholfen haben bei meinen Recherchen.  Zuerst zu nennen ist dabei vor allem die Facebook-Gruppe »Ehrenamtliche Richter«.  Dort tummeln sich Schöffen und Personen, die irgendwie anders von dem Thema betroffen sind.  Aber auch einige andere Blogger haben schon zum Thema Schöffen Insider-Veröffentlichungen im Internet, so z. B. Dr. Sebastian Stein, Dr. Bjørn Bäuchle, und die Journalisten Peter Maxwill und Marc Baumann.