2020-01-14

Wahrheitsfindung light

Man gewöhnt sich mit der Zeit daran, dass man nicht herausbekommt, was tatsächlich passiert ist.  Man ergründet im Hauptverfahren vor allem, welche Punkte beweisbar sind.  Oft ist mehr oder weniger klar, dass das nicht die einzige Tat gewesen sein kann.  (Wer dealt schon nur einmal mit Drogen und wird sofort geschnappt, und wer schmuggelt nur einmal, obwohl er dieselbe Tour nachweislich schon zehnmal geflogen ist?)  Aber es ist eben die einzige nachweisbare Tat.  Und tatsächlich herrscht unter den Richtern, die ich kennengelernt habe, diesbezüglich eine etwas lakonische Stimmung vor.  Klar, man ahne schon, dass der Täter mehr gemacht hat, aber hier wird eben nur diese eine Tat verhandelt.  Alles Nichtbeweisbare bleibt auch emotional außen vor.

Die meisten Angeklagten am Landgericht stehen dem Gericht auch nie direkt Rede und Antwort.  Sie haben alle einen Anwalt, der sie abschirmt und alle ihre Äußerungen filtert, in der Regel vorbereitet.  Es werden dann ›Einlassungen‹ verlesen, in der Regel am nächsten Verhandlungstag, denen man anhört, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt worden ist.  Will man eine spezielle Frage an den Angeklagten richten, hat man in der Regel nie Gelegenheit dazu.

Gut, theoretisch könnte man das als Schöffe im Anschluss an jede Einlassung machen – wir haben ein Fragerecht –, aber es ist klar, dass die Anwälte ihren Mandanten dazu raten würden, nichts Weitergehendes auszusagen, weil es dann ungefiltert und ungoldabgewogen daher käme.  Bei einem längeren improvisierten Schlusswort eines Angeklagten gab es schon entsprechende Gesten vom rechtlichen Beistand, der Redeschwall möge doch abebben.

In einem meiner letzten Fälle war der Unterschied zwischen dem Finden des gerichtsfest Beweisbaren und der Wahrheitsfindung besonders deutlich.

Es ging laut Anklage um schwere Vergewaltigung und Körperverletzung.  Die Verlesung des Staatsanwaltes listete detaillierte Einzelheiten auf, die brutal und unappetitlich waren.  Die genannten Details stammten aus Protokollen von Polizisten, die die Frau befragt hatten, nachdem ihr verletztes Gesicht aufgefallen war und sie gedrängt worden war, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen.

Doch die Frau ist auch die Verlobte des Angeklagten und hat als solche ein Zeugnisverweigerungsrecht, von dem sie nun doch Gebrauch machte.  Das bedeutet, dass auch die Protokolle der Aussagen bei den Polizisten nicht verwertet werden dürfen, und ebenso dürfen die Aussagen der Polizisten über die Vernehmungen nicht berücksichtigt werden.

Es blieb also nur die Körperverletzung als das gerichtsfest Beweisbare, denn von den blauen Flecken gab es Fotos, und Zeugen hatten diese gesehen.

Natürlich ahnt man in so einem Fall, dass mehr passiert sein wird, und zwar in einem Ausmaß, das an Wissen grenzt.  Aber es ist eben doch nicht genug für ein Strafgericht, und somit darf man es nicht ins Strafmaß einfließen lassen.  Und natürlich ist das in der Anklage Geschilderte keineswegs sicher.  Es lassen sich viele Szenarien denken, in denen so eine belastende Aussage gar nicht der Wahrheit entspricht oder Wesentliches (Entlastendes) weggelassen hat.

Die mögliche Zeugnisverweigerung der Hauptbelastungszeugin war schon in der Vorbesprechung zu dem Fall vage Thema.  Dennoch war die Verhandlung auf etliche Tage angesetzt – und musste schließlich drastisch gekürzt werden.  Wir haben uns noch redlich um weitere Zeugen bemüht, aber hin und wieder passt einfach nichts.

So hieß es zum Beispiel, die Nachbarin habe der Geschädigten nach der Tat beigestanden und sie zum Krankenhaus begleitet.  Da man annehmen konnte, dass sie dann auch die Verletzungen bezeugen könnte, wurde sie also geladen.

Die Zeugin, die dann erschien, war auch durchaus die Nachbarin der Geschädigten.  Es stellte sich aber schnell heraus, dass sie die falsche Nachbarin war.  Eine andere muss die gewesen sein, die damals geholfen hat.  Die erschienene Zeugin hingegen war zum Zeitpunkt der Tat verreist gewesen.  Aus den Akten war nicht so genau ersichtlich, wer die richtige Zeugin gewesen wäre.

In Filmen würde dann die Polizei wieder aktiv, die richtige Nachbarin ermittelt und anschließend die Verhandlung mit einer Ladung fortgesetzt.  In der real existierenden Berliner Gerichtsbürokratie war die Polizeiarbeit beendet, diese Akten geschlossen.  Die richtige Zeugin zu ermitteln kam nicht in Frage, es wäre viel zu aufwändig gewesen, der Nutzen zu klein, jetzt, wo sich Täter und Geschädigte ohnehin wieder vertragen hatten.

Im Ergebnis haben wir hier noch eine Weile darüber nachgedacht (und Zeugen gehört), inwieweit der Angeklagte vielleicht im Vollrausch war (eher nicht, obwohl teilweise konsumierte Mengen angegeben waren, die 3,7‰ ergeben hätten) oder zumindest alkoholisch beeinflusst war.

Nach Abwägung aller Umstände kam eine geringe Strafe heraus, die schon durch die bereits abgesessene U-Haft abgegolten war, so dass der Täter direkt auf freien Fuß und in die Arme seiner Verlobten kam.

Man fragt sich, ob es der jungen Familie wirklich gut tat, dass sie wieder vereint war.  Und ob andererseits eine Haftstrafe wirklich irgend etwas verbessert hätte.  Bei derartigen Umständen sind Gerichte vielleicht einfach die falschen Institutionen.

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