2019-01-30

Sechseinhalb Jahre

Mein erster Prozess ist vorüber, er hatte vier Hauptverhandlungstage. Auf Arbeit hat mich jemand auf Zeitungsartikel zu dem Fall hingewiesen. Googelt man nach »Tegel« und »Kokain«, so findet man z. B. diesen Artikel der BZ.

Aber von vorne. An meinem ersten Tag erscheine ich pünktlich bei Gericht. Eine Einführungsveranstaltung – anderswo durchaus üblich – hat es in Berlin vorher nicht gegeben. Wer sich nicht selbst um Informationen bemüht, weiß nicht mehr als den Termin und was im Merkblatt steht. Der Einlass im Kriminalgericht Moabit (so der althergebrachte Name des Landgerichts) ist erfreulich unkompliziert. Es gibt am Haupteingang einen Extradurchgang für Mitarbeiter (auch Schöffen), der ohne Sicherheitscheck auskommt und wenig Andrang hat. Danach ist man in der Haupthalle. Ihre kathedralenartige Architektur verlangt einem Ehrfurcht ab. Hat man nichts zu befürchten, so ist sie beeindruckend. Kommt man als Angeklagter, kann man schnell eingeschüchtert sein. Hat unser Rechtssystem das nötig, und verträgt es sich mit dem Grundsatz in dubio pro reo? Einschüchterung ist noch keine Strafe.

Und es bleibt so. Besonders kundenfreundlich ist hier nichts. Wer wissen will, wo er jetzt hin muss, sagt seine Raumnummer am besten einem Uniformierten, denn Hinweisschilder sind spärlich gesät und Gebäudepläne erst zu sehen, wenn man einen Gang schon ein Dutzend Meter weit hineingegangen ist. (Im Internet finden sich natürlich auch keine.) Und dann sind auch nur die Raumnummern der Hälfte des aktuellen Stockwerks zu sehen. Saalnummern lassen zudem nur Eingeweihte das Stockwerk erraten.

Als ich meinen Saal schließlich finde, hängen dort vier DIN-A4-Blätter als Kette am Pinbrett, die eine Verlegung in einen anderen Saal verkünden, den ich aufsuche, doch von dort werde ich sodann wieder zurückgeschickt. Die Verlegung betrifft eine andere Verhandlung, erkennbar an einem Aktenzeichen – aha. Ich weiß noch nicht, welche Verhandlung meine sein wird, kenne also keine Aktenzeichen. Ich bin früh dran, da stört mich das Laufen nicht.

Schließlich finde ich meine Strafkammer, drei Berufsrichter_innen und eine Mitschöffin. Der Umgangston ist freundlich, doch als Ehrenamtler merkt man schnell, dass man Rad Nummer vier und fünf in dem Vorgang ist. Die Profis würden den Fall problemlos auch ohne uns zu beurteilen wissen und unterhalten sich vorrangig untereinander. Verständlich, denn es sind Kollegen, und oft geht es auch um Banales aus der Arbeitswelt, oder Details werden erörtert, die aus den Akten stammen, die wir Schöffen nicht lesen, und daher nicht gut mitreden können. Dennoch, wenn ich etwas zu sagen habe, hören alle zu, und wenn ich Fragen stelle, wird gerne und umfänglich erklärt.

Fallbezogene Beratungen im Richterzimmer bleiben lebenslang geheim, und dorthin ziehen wir uns jetzt zurück. Als wir wieder herauskommen und den gut gefüllten Gerichtssaal betreten, weiß ich endlich etwas über den Fall, den wir verhandeln werden. Wir Schöffen leisten vor versammelter Mannschaft inklusive Publikum unseren Eid, dann wird die Verhandlung eröffnet.

Ein älterer Mann hat mutmaßlich Kokain von Berlin nach Israel geschmuggelt. Das hochreine Koks in seinem Koffer ist bei Stichproben entdeckt worden. Unklar ist lediglich, inwieweit er wusste, was er da transportiert. Die Menge ist erheblich, der Strafrahmen laut Gesetz liegt daher bei zwei bis 15 Jahren. Der Angeklagte ist gesundheitlich angeschlagen, sein Deutsch gebrochen, ihm assistiert einen Dolmetscher.

Angeklagte im Kriminalgericht Moabit können aus der angrenzenden U-Haftanstalt durch besondere Gänge und über eine eigene Treppe direkt bis in den Gerichtssaal gebracht werden. Anwälte, Richter, Dolmetscher, Zeugen, Zuschauer – sie alle trifft man auch mal im Gang vor dem Saal, grüßt sie verhalten – man darf ja nicht befangen wirken, also sind Gespräche knapp. Nicht so den Angeklagten. Wie Raubkatzen im Zirkus wird er auf verschlungenen Pfaden in den Saal geschleust. Justitia soll blind sein, keine persönliche Beziehung zum Objekt des Bewertungsprozesses aufbauen. Ich werde das Gefühl nicht los, einen Menschen besser beurteilen zu können, wenn ich ihn auch mal außerhalb des Gerichtssaales beobachten kann.

Der Staatsanwalt verliest die offizielle Anklage. Eine der ersten Handlungen des Vorsitzenden ist die Erwähnung von im Raume stehenden Vorschlägen zu einem Deal zwischen den Parteien.

Absprachen dienen der Verkürzung der Prozesse, da ein Großteil der Zeit für die Beweisaufnahme dann entfallen kann. Sie sind legal und üblich. Ein Angeklagter legt ein Geständnis ab, dafür halten Staatsanwaltschaft und Richterschaft einen vereinbarten Strafrahmen ein. Ist ein Schöffe aber nicht an den Absprachen beteiligt, haben diese keine bindende Wirkung für ihn, daher müssen Deals offiziell in die Hauptverhandlung einfließen.

Doch der Angeklagte mag nicht zustimmen. Bei seinem Alter scheint ihm die in Aussicht gestellte Haftstrafe so lang, dass er darin keine Perspektive sieht. Also beginnt die Verhandlung.

Ein Zeuge wird aufgerufen. Es ist der Zollbeamte, der die Drogen entdeckte. Details des Schmuggels werden erläutert, Asservate (Beweismittel, hier: der Koffer) werden in Augenschein genommen. Allmählich erst formt sich bei uns Schöffen ein Bild der Abläufe. Mutmaßliche Komplizen werden namentlich erwähnt, verschiedene frühere Reisen. Ich notiere alle mir wichtig scheinenden Punkte. Es werden schnell viele. Dann wird der Zeuge entlassen und die Verhandlung unterbrochen.

In den Pausen ziehen wir Richter uns ins Richterzimmer zurück, aber dann machen wir auch eine Essenspause. Die Kantine ist in einem Anbau, und so lange man jemandem folgen kann, findet man sie. Hinweisschilder gibt es nicht, und die spärlichen Gebäudepläne reichen nicht weit genug. Ich habe eigentlich vor, das Gebäude auch mal zu verlassen, doch da ich meine Sachen im Richterzimmer gelassen habe, könnte ich mich beim Zurückkehren nicht ausweisen. Ich riskiere das nicht und warte im Gericht.

Wie sich herausstellt, sind bereits jetzt sieben Hauptverhandlungstage für diesen Fall angesetzt. Die nächsten sind bereits in wenigen Tagen, zum Ende hin dünnt es sich aus, reicht bis in den März hinein. Mein Arbeitgeber wird sich freuen. Mehrtage im einen Prozess werden nicht später ausgeglichen, und Prozesse meiner Strafkammer werden in der Regel mehrtägig sein. Es kann aber sein, dass an einigen der im letzten Dezember bereits genannten Starttermine kein Prozess startet, dann werden die Schöffen abgeladen.

Nach der Pause folgen noch zwei weitere Zeugen aus dem Ermittlerkreis, dann wird vertagt. Es ist kurz nach zwei.

Ich gehe mit einem gewissen emotionalen Druck durch die nächsten Tage. Mir ist bewusst geworden, dass man als Richter Verantwortung für die absichtliche Beschädigung eines Lebens hat, um der Gesellschaft beim Funktionieren zu helfen. Kiloweise Kokain unter die Leute zu bringen, ist zerstörerisch für die Konsumenten und befördert weitere Verbrechen. Ich bin noch von Narcos beeindruckt. Irgendwo kommt das Kokain schließlich her.

Andererseits ist der Angeklagte so schweigsam, wissen wir über ihn bisher so wenig als Mensch, dass nicht auszuschließen ist, dass er keine Ahnung hatte, was er da transportiert. Und er ist so alt, dass bei ihm die »Strafempfindlichkeit« erhöht ist. Und überhaupt, wenn nicht er den Kurier spielt, findet sich ein anderer. Man hat ja nur einen kleinen Fisch erwischt. Denn dass es Hintermänner gibt, die ihn für die Reisen bezahlen, ist ziemlich eindeutig.

Es gibt keine offizielle Kleiderordnung, doch man liest, man solle ordentlich gekleidet kommen. Ich kann es inzwischen gut nachvollziehen. Mit dem, was man da tut, ist Schlampigkeit – und wenn sie auch nur so scheint – schwer zu vereinbaren. Ich will tatsächlich nicht, dass ein Angeklagter von einem Typ im Nerd-T-Shirt mit lustigem Spruch darauf für Jahre ins Gefängnis geschickt wird.

Ich habe noch nie in einem Umfeld mit solch ernstem Charakter gewirkt. Noch nie war Humor so wenig angemessen wie hier. Als einmal während der Verhandlung die Gerichtsschreiberin neben mir kichern muss und sich dafür hinter ihrem Bildschirm versteckt, wird mir dieses Spannungsfeld deutlich.

Ich habe noch mein anderes Leben, in dem Leichtigkeit der Normalton und Humor stärker vertreten ist. Im Gericht werde ich alle paar Wochen einen Menschen bewerten und in sein Leben eingreifen müssen. Das ist okay, doch ich würde es nicht viel häufiger haben wollen. Wenn es im Gericht um einen Fall geht, ist Humor in der Regel auf Sarkasmus und Zynismus beschränkt, so kommt keine Lächerlichkeit auf.

Am zweiten Verhandlungstag stimmt der Angeklagte dem im Raum stehenden Deal schließlich doch zu. Sein Geständnis ist ein Text, den sein Anwalt verliest und der Raum lässt, um ein gewisses Maß an Unwissenheit ob des Inhaltes des Koffers zu vermuten. Ihm sei Bezahlung versprochen worden, doch Geld habe er nicht erhalten.

Das Gericht kann Gelder »einziehen«. Wenn offensichtlich ist, dass jemand Geld mit einer Straftat erlangt hat, kann das Urteil umfassen, dass er dieses abgeben muss. »Eingezogen« heißt nicht unbedingt, dass das Geld auch gefunden und eingetrieben werden kann. Im Verlauf dieser Verhandlung steht ein Betrag von etwa 125.000 Euro als mutmaßliche Bezahlung des Angeklagten für seine Schmuggeltätigkeiten im Raum, doch da kein Geld gefunden wurde und auch keine entsprechenden klaren Beweise, werden am Ende keine wesentlichen Geldmengen eingezogen. Man kann mutmaßen, dass hier ein Walter White zwar geschnappt worden ist, sein Ziel vielleicht aber doch irgendwie erreicht hat.

Wenn ein Geständnis im Raum steht, muss das Gericht dieses noch auf Plausibilität prüfen, sonst ist der Prozess zu leicht anfechtbar. Daher hören wir an diesem Tag noch einen der Hauptermittler als Zeugen und am dritten Tag werden eine Reihe von Dokumenten (Gutachten zur gefundenen Substanz usw.) vom Vorsitzenden komplett verlesen.  (»Urkunden einführen« nennen die Berufsrichter das.)  Man gewinnt den Eindruck, dem gesprochenen Wort werde eine magische Wirkung zuerkannt. Besonders bei Tabellen macht das Verlesen der Zahlen so wenig kommunikativen Sinn, dass man sich ein anderes Verfahren wünscht. Man lässt es über sich ergehen und fragt sich, wie solcher Unsinn sich im Umfeld von so vielen klugen Köpfen etablieren und halten konnte.

Am vierten Tag hören wir noch einen letzten Zeugen, dann werden Vorstrafen vom Angeklagten verlesen, und schließlich möchte auch der Angeklagte sich noch zu seinem Lebenslauf äußern. Er hätte das nicht gemusst, doch für uns ist es eine Gelegenheit, wenigstens ein wenig über ihn zu erfahren. Wohlgemerkt wird das Wenigste davon geprüft. Wenn der Angeklagte seine Schulbildung oder ein Studium nennt, kann das gelogen sein, und das Gericht wird es nicht erfahren. Aber man kann sich ein wenig ein Bild von einem Lebenslauf machen, wo vorher nur eine sehr anonyme und lückenhafte Person bekannt war. Zum Fall selbst äußert er sich nicht näher, weil noch andere Verfahren anhängig sind.

Dann folgen die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidigung, das letzte Wort des Angeklagten (sehr kurz), und wir Richter ziehen uns zurück.

Der Deal lautet auf sechs bis sieben Jahre. Wir folgen schließlich dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilen den Angeklagten zu sechseinhalb Jahren Haft.

Inzwischen hat sich das Gefühl breit gemacht, dass das Urteil sich irgendwie von alleine ergeben habe, dass es sich herauskristallisiert und man als Richter nicht mehr wirklich eine Entscheidung gefällt habe. Sicher war der Deal eine Erleichterung, und auch das Wissen, dass ein Verbrecher in Deutschland nur so lange in Haft bleibt, wie ihm das gesundheitlich zuzumuten ist. Doch es bleibt dabei, dass man das Urteil mit verantwortet. Bei Prozessen mit weniger Konsens wird es vermutlich schwieriger.

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