2021-06-12

Berufungen zurückgenommen

Die Corona-Krise hat das Landgericht Berlin fest im Griff.  So viele Prozesse wie nur irgend möglich werden vertagt, verschoben oder durch Verfahrenseinstellungen im Vorfeld beendet.  Nach dem Termin im Februar 2020 bekomme ich nur noch Absagen für das ganze Jahr.

Als Hauptschöffe wird man aber jedes Jahr neu einer anderen Kammer zugewiesen, und im Jahr 2021 komme ich zu einer Berufungskammer.  Das ist keine große Strafkammer, sie ist nicht mit drei Berufsrichtern besetzt, sondern nur mit einem, und in ihr werden nur Berufungen verhandelt.  Das bedeutet, dass die Fälle alle vorher beim Amtsgericht ein Urteil gefunden haben, mit dem einer der Beteiligten (in der Regel der Angeklagte) nicht zufrieden ist.  Und wie uns unser Vorsitz erzählt, hat das Amtsgericht seine Arbeit wohl überhaupt nicht gedrosselt, wodurch Berufungsverhandlungen in gleichem Maße wie ohne Corona anfallen und sich jetzt am Landgericht stauen.  Für mich als Schöffe dort bedeutet dies also, dass ich weniger Ausfälle haben dürfte.  Könnte man meinen.

Bei der ersten Verhandlung dieser Art ist jemand mit seinem Urteil nicht zufrieden, weil er (vermutlich in der Untersuchungshaft) erfahren hat, dass man als Ersttäter in der Regel eine Bewährungsstrafe erhält.  Das hat er bei seiner ersten Tat wohl nicht.  Darum ist er jetzt in Berufung gegangen – allerdings bei seiner zweiten Tat.  Ihm scheint es logisch, dass die Ungerechtigkeit der nicht gewährten Bewährung jetzt wieder ausgeglichen werden sollte.

Die Idee der Bewährungsstrafe bei Ersttätern ist allerdings, dass man dem Täter einen Schuss vor den Bug verpassen will, in der Hoffnung, dass er genügend erschreckt ist, sodass er keine weiteren Taten mehr begeht.  Bei diesem Täter hat offensichtlich auch die vollstreckte Haftstrafe nicht gewirkt.  Da kommt aus Sicht des Gerichts keine Bewährung bei Folgetaten mehr in Frage.  Das hat dem Angeklagten seine Anwältin auch erklärt, doch der Mann ist stur.  Er besteht auf seiner Berufungsverhandlung, erhofft sich Gerechtigkeit in Form von Freiheit durch Bewährung.

Mit Engelszungen redet unser Vorsitz also auf den Angeklagten ein, dass er doch lieber seine Berufung zurücknehmen soll, das Urteil des Amtsgerichts sei wirklich günstig für ihn ausgefallen.  Und nach etlichen Minuten des störrischen Hin und Hers sieht der Angeklagte schließlich ein, dass hier niemand gewillt zu sein scheint, ihm die erhoffte Bewährung zu geben, und zieht seine Berufung zurück.

Für uns als Schöffen ist die Sache damit erledigt, aber natürlich ist das wenig interessant so.  Es ist allerdings für den Steuerzahler besser, denn es drückt die Gerichtskosten, die der Angeklagte vermutlich ohnehin nicht würde bezahlen können.  Wir haben selten reiche Menschen auf der Anklagebank.

*

Beim nächsten Termin bin ich zu morgens geladen.  Entsprechend halte ich mir den Tag frei von Terminen, doch kaum bin ich unterwegs, erhalte ich einen Anruf.  Der erste Prozess findet nicht statt, ich soll bitte erst zum Mittag erscheinen, wenn der zweite Prozess starten soll.  Ich kehre um, fahre mittags wieder los und bin pünktlich zu 12:30 im Gerichtssaal.  Wir Schöffen erhalten unsere kurze Einweisung in den Fall, dann betreten wir den Gerichtssaal, wo der Anwalt des Angeklagten sofort verkündet, dass die Berufung zurückgezogen wird.  Es sei ja keine neue Beweislage entstanden, daher sei auch nicht mit einer Verbesserung in der Berufung zu rechnen.

Ja.  Gut.  Und das hat er gestern noch nicht gewusst?  Und warum ist er überhaupt in Berufung gegangen?  Solche Fragen werden hinterher nur mit Achselzucken beantwortet.

So langsam gewinne ich den Eindruck, dass Berufungsverhandlungen nur ein Gerücht sind.

4 Kommentare:

  1. Sie werden noch viel Spass in der Kleinen Strafkammer haben (Ironie aus).
    Bisher hat mir noch niemand nachweisen können, dass der BGH für Ersttäter eine Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe empfiehlt. Gerüchte werden durch Mundpropaganda aber am Leben gehalten.

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  2. Der BGH entscheidet ja auch nicht über die Auslegung innerhalb des Strafrahmens (zu dem Bewährungsstrafen eben gehören), das entscheidet die Kammer selbst.

    Gemeint war allerdings, dass Bewährungsstrafen bei Ersttätern eher mal sinnvoll sind als bei Wiederholungstätern.

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  3. Kammern und Strafrichter/-innen berufen sich immer auf den BGB, dessen Urteil/Beschluss zu Ersttätern/-innen aber nicht auffindbar ist.

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  4. Ich wage zu bezweifeln, dass sich alle Kammern immer auf den BGH berufen. Um das zu belegen, müsste man sehr viele Urteile untersuchen. Aber solche Verweise mag es geben, keine Frage.

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