2021-06-19

Zähe Zeugen und Indizien

Offensichtlich hatte ich nur Pech mit den ersten Fällen:  Die nächsten Berufungsverhandlungen finden statt.  Sie beginnen mit der Verlesung des Vorurteils, das nicht rechtskräftig geworden ist, und dann wird alles noch einmal verhandelt, inklusive der Beweisaufnahme, wozu auch die Zeu­gen­aus­sa­gen gehören.

Von der Tat bis zu einer ersten Verhandlung vor dem Amtsgericht – der Vorinstanz – gehen schon einige Monate ins Land.  Die Berufung verzögert dann noch einmal alles.  Der große Nachteil von Be­ru­fungs­ver­hand­lun­gen ist daher, dass die Fälle in der Regel schon zwei Jahre oder mehr zurückliegen, wobei es auch keine so schwerwiegenden Delikte sind (Diebstahl, Unterschlagung, Drogenbesitz).  Die Folge ist, dass die Zeugen oft so gut wie keine Erinnerung mehr haben, was damals genau vorgefallen ist.  Nach ihren Aussagen in der ersten Verhandlung haben sie in der Regel den Fall innerlich abgehakt, Unterlagen entsorgt usw.  Für die Berufungsverhandlung frischen Polizisten oder Justizbeamte ihre Erinnerungen nach Möglichkeit mit alten Berichten auf, die dem Gericht vorliegen und die der Vorsitzende den Zeugen oft vorhält.  Dann fällt regelmäßig der Satz:  »Wenn das da so drinsteht, wird das so gewesen sein.«  Die Vernehmungen ziehen sich dadurch oft, und mehr als einmal steht man nach der Zeugenaussage auch nicht schlauer da als vorher.

In dem einen Fall ist der Ange­klagte wegen ge­mein­schaft­lich verübten Mordes schon seit vielen Jahren in­haf­tiert.  Bei ihm sind in der Haft­anstalt Drogen gefunden wor­den, und deshalb ist er jetzt bei uns.  Seine Vor­stra­fe spielt für uns tat­sächlich keine Rolle, den­noch wird uns der Mann gleich in der Vor­be­sprechung als »Mör­der« angekündigt.  Zu­hö­rer hät­ten das erst gegen Ende des Prozesses er­fah­ren.  Man merkt zwar, dass er bewacht wird, aber erst kurz vor den Plädoyers werden die persönlichen Verhält­nisse des Ange­klagten erörtert.  Vielleicht ist es doch ganz gut, nicht erst so spät diesen leichten Schock zu erleben.  Anderer­seits stellt es einen sofort ent­sprechend auf den Menschen ein.

Er will von den Drogen nichts gewusst haben, doch das nehmen wir ihm nicht ab und bestätigen das Urteil der Vor­instanz – nur die Höhe des Tages­satzes reduzieren wir.  Davon hat der Mann aber nicht viel, denn ihm ging es um einen Frei­spruch, der ihm den Verlust von Haft­erleich­terungen erspart hätte.  »Jetzt in der Corona-Zeit sind wir fast ständig in unserer Zelle einge­schlossen«, so ein Satz von ihm, der mich nach­denklich macht.  Natürlich – eine Infek­tions­welle im Gefängnis unterbindet man am ein­fachsten so.

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Im nächsten Fall, der sich über zwei Ver­hand­lungs­tage erstreckt, müssen wir entscheiden, ob die Indizien ausreichen, um einen Zusteller wegen der Unterschlagung von Paketen zu verurteilen.  Es ist schon bemerkenswert, wie viele besonders wertvolle Pakete immer genau zu seinen Dienstzeiten abhanden gekommen sind.  Und obwohl nichts davon bei ihm in der Wohnung gefunden werden konnte, hat ihm das Amtsgericht einen ganzen Haufen davon zur Last gelegt.  Sehr schnell haben wir den Eindruck, dass das vorige Urteil eigenartig ist, da es klarer Beweise entbehrt.

Ein Paket Blankofahrscheine der Bahn, die erst noch bedruckt werden müssten, hat die Polizei aber doch in seinem Keller gefunden.  Dieses lässt sich einer seiner verschwundenen Zustellungen zuordnen.  Er behauptet zwar, dass ein Kollege das Paket bei ihm untergestellt habe, doch das klingt wenig überzeugend, auch wenn gegen diesen ebenfalls Verfahren wegen Unterschlagung von Paketen laufen.  Im Raum steht, dass da auch noch auf andere Art zusammengearbeitet worden sei, doch das lässt sich nicht beweisen.  Immerhin sind wir überzeugt, dass das Paket geöffnet war, sodass der Inhalt dem Angeklagten eigentlich hätte ersichtlich gewesen sein müssen.

Wir reduzieren schließlich die eigenartig hohe Strafe der Vorinstanz (über ein Jahr auf Bewährung) auf lediglich 120 Tagessätze, womit die Strafe im Führungszeugnis auftaucht.  Dafür, dass ihm nur die Unterschlagung eines Pakets ohne wesentlichen nominellen Wert nachgewiesen wird (und der Bruch des Postgeheimnisses), überrascht mich die Höhe der Strafe.  Unterschlagung wird schwerer bestraft, wenn einem die Sache explizit anvertraut worden ist, aber dennoch …

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