Als Schöffe am Landgericht nimmt man an Strafprozessen von der Eröffnung der Hauptverhandlung bis zur mündlichen Urteilsbegründung teil. Nur in seltenen Ausnahmen sind die Angeklagten dabei unverteidigt. Man beobachtet also im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Verteidigern. Und stellt dabei ganz besondere Verhaltensweisen fest.
Die Ziele der Verteidiger
Diese Rechtsanwälte stehen in einem einzigartigen Verhältnis zum Gericht, was sie ein wenig zu Paradiesvögeln der Hauptverhandlungen macht: Einerseits sind sie professionelle Juristen, genau wie die Berufsrichter und die Staatsanwälte, die auch immer anwesend sind. Andererseits sind sie aber den Angeklagten verpflichtet. Zum einen, weil das Gesetz das so vorsieht. Ein Verteidiger darf seinem Klienten keinen Schaden zufügen. Tut er es doch, ist das als Parteiverrat sogar eine Straftat. Zum anderen aber auch, weil sie Freiberufler sind, die von ihren Kunden, also ihren angeklagten Klienten aus ökonomischen Gründen abhängig sind. Ein Verteidiger, der alle Fälle verliert, verliert früher oder später auch die Kunden. Und dann spielt noch der Umstand mit, dass ein Verteidiger immer verdient, auch am verlorenen Prozess. Dann muss er seinem Klienten mindestens begreiflich machen, dass er alles Mögliche unternommen habe und dass der Versuch kein Unsinn gewesen sei.Verteidiger sind also in einer vierfachen Zwickmühle: Sie wollen, dass es gerecht zugeht (ein grundsätzlich gesundes Verhältnis zu Ethik und Moral gestehe ich den meisten schon zu). Sie müssen der Strafprozessordnung folgen, die ihnen in Prozessen nicht sehr viel Freiraum lässt, dafür aber einige seltsame Wege bietet – dazu später mehr. Sie müssen das günstigste Urteil für ihren Kunden anstreben. Und sie müssen beim Kunden den Eindruck hinterlassen, eine gute Arbeit geleistet zu haben, unabhängig vom Prozessausgang. Und oft sind diese verschiedenen Ziele schwer unter einen Hut zu bringen.
Theater
Viele dieser Kunden der Verteidiger in Strafprozessen sind eher bildungsfern und in ihrem Leben oft auf vielfältige Weise gescheitert. So jemanden davon zu überzeugen, dass man sich für ihn einsetzt, ist oft nicht nur mit guter juristischer Arbeit und Erklärungen zu erreichen, sondern bedeutet manchmal auch, dass man Emotionen zeigen muss. Viele Verteidiger neigen daher auch mal dazu, auf den Putz zu hauen und ein wenig Theater zu spielen. Das wissen alle Beteiligten – wir Schöffen lernen es früher oder später auch, wir besprechen uns ja mit den Berufsrichtern. Entsprechend nachsichtig und verständig gehen alle mit den Verteidigern um.
Ich habe schon erlebt, wie ein Verteidiger bei der Urteilsbegründung wütend schimpfend aufgesprungen ist und an einer Formulierung der mündlichen Begründung Anstoß genommen hat. Er hat dann laut mit einem »Nachspiel« drohend seine Sachen zusammengepackt und den Gerichtssaal verlassen. Der Vorsitz hat kurz abgewartet und seine Urteilsbegründung im Anschluss weiter vorgetragen. Der Verteidiger muss dabei nicht anwesend sein. Überhaupt ist der Drops gelutscht, wenn das Urteil verkündet ist. Solches Verhalten hat das vorrangige Ziel, den Klienten zu beeindrucken.
Verteidiger sehen jede Art von Unklarheit und Nebulösität als Vorteil für ihren Mandanten, denn im Zweifel muss immer für den Angeklagten entschieden werden. Folglich versuchen sie wo immer möglich, Dinge unklar erscheinen zu lassen. Je nach Mangel an Geschick des Verteidigers führt das manchmal zu drolligen Situationen. Da werden Zeugen mit seltsamen Fragen irritiert, damit es wenigstens so wirkt, als wären sie in irgendeinem Punkt ihrer Aussage nicht so ganz sicher. Gutachter werden zu Nebensächlichkeiten ausgehorcht, bis irgendwo das Wissen erschöpft ist, und jedes »das weiß ich nicht« wird mit bedeutungsvollem Nicken und einem »ach so« quittiert, dann Sekunden gewartet oder gar in den virtuellen Akten auf dem Laptop geblättert, um diesen Moment auch bei allen Zuhörern einsinken zu lassen. Übertreibt es der Anwalt mit seinen Fragen, greift aber auch mal der Vorsitz ein. Fragen dürfen z. B. nicht wiederholt werden, auch nicht in anderer Formulierung. Was vor fünf Minuten schon beantwortet worden ist, ist tabu.
Eine Verteidigerin hat einmal ihr Plädoyer gehalten und darin einen Umstand erwähnt, der die Staatsanwaltschaft hellhörig werden ließ. Es stellte sich dann im Anschluss heraus, dass eine Vorstrafe noch nicht in der Hauptverhandlung erwähnt worden war, weil sie erst sehr kürzlich ins Zentralregister aufgenommen worden war. Der Vorsitz hatte einen Auszug verlesen, der einige Tage zu alt war. Als dies bekannt wurde, musste die Beweisaufnahme noch einmal eröffnet werden.
Das hat die Anwältin – durchaus verständlich – ziemlich erbost. Ein Plädoyer hält man eigentlich nur einmal. Jetzt musste sie es einige Minuten später noch einmal halten, noch dazu in einer verschlechterten Situation (mit einer neuen bekannten Vorstrafe). Andererseits sollte die Verteidigerin über die Vorstrafen ihres Klienten auch Bescheid wissen und sich nicht zu sehr aufregen, wenn eine vergessene doch noch ans Licht kommt.
Ich habe auch erlebt, dass eine Verteidigerin sich selbst im Namen ihrer (nicht erschienenen) Mandantin eine Vollmacht zur Vertretung dieser Mandantin ausstellen wollte. Die Anwältin hat nur ihren Job gemacht, als sie das versucht hat. Aber irgendwie war schon allen klar, dass der Gesetzgeber das mit der Vollmacht zur Vertretung in Abwesenheit so nicht gemeint hatte. Man muss es in dieser Position halt versuchen (was sie so auch einräumte).
Aber auch den extrem passiven Verteidiger habe ich schon erlebt, der keinerlei Fragen an Zeugen richtete, keine Anträge stellte, nichts. Im Plädoyer beantragte er eine Strafe nur knapp unter der der Staatsanwaltschaft. Der Fall war aus seiner Sicht offenbar sehr klar und das Urteil unabwendbar, sodass er wohl aus prozessökonomischen Gründen möglichst schnell zum Ende kommen wollte. Aber auch dieses Verhalten sorgte für ein wenig Befremden in meinem Umfeld.
Bei einem besonders tragischen Fall war ich nicht selbst beteiligt, sondern von dem hat uns ein Verteidiger beim Weißen Ring in einem Seminar berichtet:
Bei einem Autounfall wird eine Person schwer verletzt, ist jetzt behindert. Gegen den Fahrer wird ein Strafverfahren wegen schwerer Körperverletzung eröffnet. In diesem Verfahren wird der Geschädigte als Zeuge gehört. Er wird dabei vom Vorsitz gefragt, wie er denn vorzugehen gedenkt. Der Geschädigte sagt, dass er den Ausgang des Strafverfahrens abwarten und, wenn der Angeklagte verurteilt werden sollte, eine Schadenersatzforderung stellen will.
Das ist im Prinzip auch ein kluges Vorgehen, weil man so zunächst Kosten vermeidet und relativ sicher sein kann, mit diesen Forderungen Erfolg zu haben – immerhin ist die Schuld des Täters ja schon strafgerichtlich festgestellt worden. Aber beim Stellen von Forderungen auf Schadenersatz sind Fristen einzuhalten, und da der Prozess sich hinzog, drohten diese überschritten zu werden.
Weder Richter noch Verteidiger durften den Geschädigten darauf hinweisen. Die Richter wären nicht mehr neutral gewesen und damit befangen, und der Verteidiger hätte sogar Parteiverrat begangen. Mehr noch, der Verteidiger musste zum Wohle seines Mandanten den Prozess jetzt möglichst lange hinziehen, damit genau diese Fristüberschreitung eintreten konnte.
Der Geschädigte hätte sich natürlich rechtlich beraten lassen sollen. Jeder Anwalt hätte ihm dringend geraten, schon einmal eine Forderung zu stellen, um die Frist zu wahren. So ist das Opfer dieses Unfalls schließlich auch noch finanziell leer ausgegangen.
Revisionsgefahr
Über jedem Prozess am Landgericht hängt das Damoklesschwert der Revision: Ist die Verteidigung mit dem Verlauf des Prozesses nicht zufrieden, kann sie Revision einlegen, was bewirkt, dass der Prozess vom Bundesgerichtshof auf Verfahrensfehler überprüft wird. (Die Anklage kann das auch, aber in diesem Artikel soll es nur um die Verteidigung gehen.) Werden solche dann tatsächlich gefunden, war die Arbeit des Prozesses umsonst, er wird (mindestens teilweise) wiederholt. Berufliche Probleme ergeben sich daraus für die Richter zwar nicht – sie sind unabhängig und unantastbar, solange sie in ihren Verfahren keine Straftaten wie Rechtsbeugung begehen. Aber es kratzt natürlich an ihrer Berufsehre, wenn ihnen ein Verfahrensfehler nachgewiesen wird. Und niemand arbeitet gerne für die Katz.
Insofern ist eine Kammer am Landgericht unter stärkerem gefühlten Druck als ein Richter am Amtsgericht. Dort kann ein Verfahren zwar auch angefochten werden, es geht dann aber in die Berufung, wo der Fall einfach neu aufgerollt wird, ohne das vorige Urteil explizit zu bewerten. Niemand sagt dem Amtsrichter konkret, dass er einen Verfahrensfehler begangen hat, und eine Berufung kann die Verteidigung eben auch ohne Verfahrensfehler einlegen.
Aus dieser Möglichkeit zur Revision ergibt sich für die Verteidigung aber immer ein möglicher Ausweg, für den Fall, dass der Angeklagte mit dem Ergebnis des Verfahrens nicht zufrieden sein sollte. Verteidiger suchen deshalb in der Regel immer nach möglichen Revisionsgründen und versuchen manchmal sogar, diese zu provozieren.
In einer Revision, die die Verteidigung eingelegt hat, gibt es zudem ein Verschlechterungsverbot: Sollte ein Verfahrensfehler gefunden worden sein und der Prozess teilweise wiederholt werden, darf das Urteil im neuen Verfahren nicht schlechter für den Angeklagten ausfallen. Eine Revision ist demnach risikofrei für den Klienten und lukrativ für den Verteidiger.
Vorsitzende Richter achten daher in der Regel wie die Schießhunde darauf, in ihren Verfahren keine Revisionsgründe zu bieten, mit anderen Worten: die Strafprozessordnung peinlich genau zu befolgen. Das kann sich darin äußern, dass sie sehr genau überlegen, welche Fragen sie stellen bzw. zulassen, dass sie alle vorgeschriebenen Reihenfolgen genau beachten, – und dass sie eben Verteidigern ziemlich viel Freiraum gewähren, denn eine übermäßige Einschränkung der Verteidigung kann auch ein Verfahrensfehler sein.
Anderen Prozessbeteiligten wird schnell mal die Form vorgeschrieben, die doch bitte einzuhalten ist. Zeuge mit Mütze? Bitte abnehmen. Zuschauer mit Handy? Bitte wegstecken. Getränke auf der Richterbank? Eher nicht.
Aber bei Verteidigern wird eher selten irgendetwas korrigiert. Die zücken auch mal in der Verhandlung ihr Handy oder haben oft Getränkeflaschen auf dem Tisch stehen. Auch die besagten Emotionsausbrüche werden in der Regel weder geahndet noch kommentiert.
Oft wird auch uns Schöffen geraten, mit dem heutigen speziellen Verteidiger besonders vorsichtig umzugehen, der suche geradezu nach Kleinigkeiten wie eine Emotionsäußerung eines Schöffen, die den Verdacht einer Befangenheit begründen könnte. Gespräche mit anderen Prozessbeteiligten in der Wartezeit vor dem Gerichtssaal sind schon deswegen weitgehend tabu für Schöffen.
Im Gegenzug sehen Verteidiger in den Schöffen manchmal aber auch ihre letzte Hoffnung, einen aussichtslosen Fall doch noch zu gewinnen. Für eine Verurteilung eines Angeklagten ist eine Zweidrittelmehrheit der Richter notwendig. Wenn also beide Schöffen für einen Freispruch sind, gibt es den auch in jedem Fall, auch in einer großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern.
Die Verteidigung schmiert daher Schöffen auch manchmal Honig um den Bart. Ihre Unabhängigkeit wird im Plädoyer noch einmal betont, die menschlichen Aspekte der Strafe für den Angeklagten erwähnt.
Es ist eben alles Teil dieses Berufes.
Ausblick: Schwurgericht
Seit 2022 bin ich als Schöffe im Schwurgericht des Kriminalgerichts Moabit tätig. Schwurgerichte sind große Strafkammern, die sich mit Tötungsdelikten beschäftigen. Von fahrlässiger Tötung über Totschlag bis zu Mord kann mich dort also alles erwarten.