2022-06-25

Verteidiger


Als Schöffe am Landgericht nimmt man an Strafprozessen von der Eröffnung der Hauptverhandlung bis zur mündlichen Urteilsbegründung teil.  Nur in seltenen Ausnahmen sind die Angeklagten dabei unverteidigt.  Man beobachtet also im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Verteidigern.  Und stellt dabei ganz besondere Verhaltensweisen fest.

Die Ziele der Verteidiger

Diese Rechts­anwälte stehen in einem einzig­artigen Ver­hältnis zum Gericht, was sie ein wenig zu Paradies­vögeln der Haupt­verhand­lungen macht:  Einer­seits sind sie profes­sionelle Juristen, ge­nau wie die Berufs­richter und die Staats­anwälte, die auch immer anwesend sind.  Anderer­seits sind sie aber den Ange­klagten ver­pflich­tet.  Zum einen, weil das Gesetz das so vorsieht.  Ein Verteidiger darf seinem Klienten keinen Schaden zufügen.  Tut er es doch, ist das als Parteiverrat sogar eine Straftat.  Zum anderen aber auch, weil sie Freiberufler sind, die von ihren Kunden, also ihren angeklagten Klienten aus ökonomischen Gründen abhängig sind.  Ein Verteidiger, der alle Fälle verliert, verliert früher oder später auch die Kunden.  Und dann spielt noch der Umstand mit, dass ein Verteidiger immer verdient, auch am verlorenen Prozess.  Dann muss er seinem Klienten mindestens begreiflich machen, dass er alles Mögliche unternommen habe und dass der Versuch kein Unsinn gewesen sei.

Verteidiger sind also in einer vierfachen Zwickmühle:  Sie wollen, dass es gerecht zugeht (ein grundsätzlich gesundes Verhältnis zu Ethik und Moral gestehe ich den meisten schon zu).  Sie müssen der Strafprozessordnung folgen, die ihnen in Prozessen nicht sehr viel Freiraum lässt, dafür aber einige seltsame Wege bietet – dazu später mehr.  Sie müssen das günstigste Urteil für ihren Kunden anstreben.  Und sie müssen beim Kunden den Eindruck hinterlassen, eine gute Arbeit geleistet zu haben, unabhängig vom Prozessausgang.  Und oft sind diese verschiedenen Ziele schwer unter einen Hut zu bringen.

Theater

Viele dieser Kunden der Verteidiger in Strafprozessen sind eher bildungsfern und in ihrem Leben oft auf vielfältige Weise gescheitert.  So jemanden davon zu überzeugen, dass man sich für ihn einsetzt, ist oft nicht nur mit guter juristischer Arbeit und Erklärungen zu erreichen, sondern bedeutet manchmal auch, dass man Emotionen zeigen muss.  Viele Verteidiger neigen daher auch mal dazu, auf den Putz zu hauen und ein wenig Theater zu spielen.  Das wissen alle Beteiligten – wir Schöffen lernen es früher oder später auch, wir besprechen uns ja mit den Berufsrichtern.  Entsprechend nachsichtig und verständig gehen alle mit den Verteidigern um.

Ich habe schon erlebt, wie ein Verteidiger bei der Urteilsbegründung wütend schimpfend aufgesprungen ist und an einer Formulierung der mündlichen Begründung Anstoß genommen hat.  Er hat dann laut mit einem »Nachspiel« drohend seine Sachen zusammengepackt und den Gerichtssaal verlassen.  Der Vorsitz hat kurz abgewartet und seine Urteilsbegründung im Anschluss weiter vorgetragen.  Der Verteidiger muss dabei nicht anwesend sein.  Überhaupt ist der Drops gelutscht, wenn das Urteil verkündet ist.  Solches Verhalten hat das vorrangige Ziel, den Klienten zu beeindrucken.

Verteidiger sehen jede Art von Unklarheit und Nebulösität als Vorteil für ihren Mandanten, denn im Zweifel muss immer für den Angeklagten entschieden werden.  Folglich versuchen sie wo immer möglich, Dinge unklar erscheinen zu lassen.  Je nach Mangel an Geschick des Verteidigers führt das manchmal zu drolligen Situationen.  Da werden Zeugen mit seltsamen Fragen irritiert, damit es wenigstens so wirkt, als wären sie in irgendeinem Punkt ihrer Aussage nicht so ganz sicher.  Gutachter werden zu Nebensächlichkeiten ausgehorcht, bis irgendwo das Wissen erschöpft ist, und jedes »das weiß ich nicht« wird mit bedeutungsvollem Nicken und einem »ach so« quittiert, dann Sekunden gewartet oder gar in den virtuellen Akten auf dem Laptop geblättert, um diesen Moment auch bei allen Zuhörern einsinken zu lassen.  Übertreibt es der Anwalt mit seinen Fragen, greift aber auch mal der Vorsitz ein.  Fragen dürfen z. B. nicht wiederholt werden, auch nicht in anderer Formulierung.  Was vor fünf Minuten schon beantwortet worden ist, ist tabu.

Eine Verteidigerin hat einmal ihr Plädoyer gehalten und darin einen Umstand erwähnt, der die Staatsanwaltschaft hellhörig werden ließ.  Es stellte sich dann im Anschluss heraus, dass eine Vorstrafe noch nicht in der Hauptverhandlung erwähnt worden war, weil sie erst sehr kürzlich ins Zentralregister aufgenommen worden war.  Der Vorsitz hatte einen Auszug verlesen, der einige Tage zu alt war.  Als dies bekannt wurde, musste die Beweisaufnahme noch einmal eröffnet werden.

Das hat die Anwältin – durchaus verständlich – ziemlich erbost.  Ein Plädoyer hält man eigentlich nur einmal.  Jetzt musste sie es einige Minuten später noch einmal halten, noch dazu in einer verschlechterten Situation (mit einer neuen bekannten Vorstrafe).  Andererseits sollte die Verteidigerin über die Vorstrafen ihres Klienten auch Bescheid wissen und sich nicht zu sehr aufregen, wenn eine vergessene doch noch ans Licht kommt.

Ich habe auch erlebt, dass eine Verteidigerin sich selbst im Namen ihrer (nicht erschienenen) Mandantin eine Vollmacht zur Vertretung dieser Mandantin ausstellen wollte.  Die Anwältin hat nur ihren Job gemacht, als sie das versucht hat.  Aber irgendwie war schon allen klar, dass der Gesetzgeber das mit der Vollmacht zur Vertretung in Abwesenheit so nicht gemeint hatte.  Man muss es in dieser Position halt versuchen (was sie so auch einräumte).

Aber auch den extrem passiven Verteidiger habe ich schon erlebt, der keinerlei Fragen an Zeugen richtete, keine Anträge stellte, nichts.  Im Plädoyer beantragte er eine Strafe nur knapp unter der der Staatsanwaltschaft.  Der Fall war aus seiner Sicht offenbar sehr klar und das Urteil unabwendbar, sodass er wohl aus prozessökonomischen Gründen möglichst schnell zum Ende kommen wollte.  Aber auch dieses Verhalten sorgte für ein wenig Befremden in meinem Umfeld.

Bei einem besonders tragischen Fall war ich nicht selbst beteiligt, sondern von dem hat uns ein Verteidiger beim Weißen Ring in einem Seminar berichtet:

Bei einem Autounfall wird eine Person schwer verletzt, ist jetzt behindert.  Gegen den Fahrer wird ein Strafverfahren wegen schwerer Körperverletzung eröffnet.  In diesem Verfahren wird der Geschädigte als Zeuge gehört.  Er wird dabei vom Vorsitz gefragt, wie er denn vorzugehen gedenkt.  Der Geschädigte sagt, dass er den Ausgang des Strafverfahrens abwarten und, wenn der Angeklagte verurteilt werden sollte, eine Schadenersatzforderung stellen will.

Das ist im Prinzip auch ein kluges Vorgehen, weil man so zunächst Kosten vermeidet und relativ sicher sein kann, mit diesen Forderungen Erfolg zu haben – immerhin ist die Schuld des Täters ja schon strafgerichtlich festgestellt worden.  Aber beim Stellen von Forderungen auf Schadenersatz sind Fristen einzuhalten, und da der Prozess sich hinzog, drohten diese überschritten zu werden.

Weder Richter noch Verteidiger durften den Geschädigten darauf hinweisen.  Die Richter wären nicht mehr neutral gewesen und damit befangen, und der Verteidiger hätte sogar Parteiverrat begangen.  Mehr noch, der Verteidiger musste zum Wohle seines Mandanten den Prozess jetzt möglichst lange hinziehen, damit genau diese Fristüberschreitung eintreten konnte.

Der Geschädigte hätte sich natürlich rechtlich beraten lassen sollen.  Jeder Anwalt hätte ihm dringend geraten, schon einmal eine Forderung zu stellen, um die Frist zu wahren.  So ist das Opfer dieses Unfalls schließlich auch noch finanziell leer ausgegangen.

Revisionsgefahr

Über jedem Prozess am Landgericht hängt das Damoklesschwert der Revision:  Ist die Verteidigung mit dem Verlauf des Prozesses nicht zufrieden, kann sie Revision einlegen, was bewirkt, dass der Prozess vom Bundesgerichtshof auf Verfahrensfehler überprüft wird.  (Die Anklage kann das auch, aber in diesem Artikel soll es nur um die Verteidigung gehen.)  Werden solche dann tatsächlich gefunden, war die Arbeit des Prozesses umsonst, er wird (mindestens teilweise) wiederholt.  Berufliche Probleme ergeben sich daraus für die Richter zwar nicht – sie sind unabhängig und unantastbar, solange sie in ihren Verfahren keine Straftaten wie Rechtsbeugung begehen.  Aber es kratzt natürlich an ihrer Berufsehre, wenn ihnen ein Verfahrensfehler nachgewiesen wird.  Und niemand arbeitet gerne für die Katz.

Insofern ist eine Kammer am Landgericht unter stärkerem gefühlten Druck als ein Richter am Amtsgericht.  Dort kann ein Verfahren zwar auch angefochten werden, es geht dann aber in die Berufung, wo der Fall einfach neu aufgerollt wird, ohne das vorige Urteil explizit zu bewerten.  Niemand sagt dem Amtsrichter konkret, dass er einen Verfahrensfehler begangen hat, und eine Berufung kann die Verteidigung eben auch ohne Verfahrensfehler einlegen.

Aus dieser Möglichkeit zur Revision ergibt sich für die Verteidigung aber immer ein möglicher Ausweg, für den Fall, dass der Angeklagte mit dem Ergebnis des Verfahrens nicht zufrieden sein sollte.  Verteidiger suchen deshalb in der Regel immer nach möglichen Revisionsgründen und versuchen manchmal sogar, diese zu provozieren.

In einer Revision, die die Verteidigung eingelegt hat, gibt es zudem ein Verschlechterungsverbot:  Sollte ein Verfahrensfehler gefunden worden sein und der Prozess teilweise wiederholt werden, darf das Urteil im neuen Verfahren nicht schlechter für den Angeklagten ausfallen.  Eine Revision ist demnach risikofrei für den Klienten und lukrativ für den Verteidiger.

Vorsitzende Richter achten daher in der Regel wie die Schießhunde darauf, in ihren Verfahren keine Revisionsgründe zu bieten, mit anderen Worten: die Strafprozessordnung peinlich genau zu befolgen.  Das kann sich darin äußern, dass sie sehr genau überlegen, welche Fragen sie stellen bzw. zulassen, dass sie alle vorgeschriebenen Reihenfolgen genau beachten, – und dass sie eben Verteidigern ziemlich viel Freiraum gewähren, denn eine übermäßige Einschränkung der Verteidigung kann auch ein Verfahrensfehler sein.

Anderen Prozessbeteiligten wird schnell mal die Form vorgeschrieben, die doch bitte einzuhalten ist.  Zeuge mit Mütze?  Bitte abnehmen.  Zuschauer mit Handy?  Bitte wegstecken.  Getränke auf der Richterbank?  Eher nicht.

Aber bei Verteidigern wird eher selten irgendetwas korrigiert.  Die zücken auch mal in der Verhandlung ihr Handy oder haben oft Getränkeflaschen auf dem Tisch stehen.  Auch die besagten Emotionsausbrüche werden in der Regel weder geahndet noch kommentiert.

Oft wird auch uns Schöffen geraten, mit dem heutigen speziellen Verteidiger besonders vorsichtig umzugehen, der suche geradezu nach Kleinigkeiten wie eine Emotionsäußerung eines Schöffen, die den Verdacht einer Befangenheit begründen könnte.  Gespräche mit anderen Prozessbeteiligten in der Wartezeit vor dem Gerichtssaal sind schon deswegen weitgehend tabu für Schöffen.

Im Gegenzug sehen Verteidiger in den Schöffen manchmal aber auch ihre letzte Hoffnung, einen aussichtslosen Fall doch noch zu gewinnen.  Für eine Verurteilung eines Angeklagten ist eine Zweidrittelmehrheit der Richter notwendig.  Wenn also beide Schöffen für einen Freispruch sind, gibt es den auch in jedem Fall, auch in einer großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern.

Die Verteidigung schmiert daher Schöffen auch manchmal Honig um den Bart.  Ihre Unabhängigkeit wird im Plädoyer noch einmal betont, die menschlichen Aspekte der Strafe für den Angeklagten erwähnt.

Es ist eben alles Teil dieses Berufes.

Ausblick: Schwurgericht

Seit 2022 bin ich als Schöffe im Schwurgericht des Kriminalgerichts Moabit tätig.  Schwurgerichte sind große Strafkammern, die sich mit Tötungsdelikten beschäftigen.  Von fahrlässiger Tötung über Totschlag bis zu Mord kann mich dort also alles erwarten.

2021-06-19

Zähe Zeugen und Indizien

Offensichtlich hatte ich nur Pech mit den ersten Fällen:  Die nächsten Berufungsverhandlungen finden statt.  Sie beginnen mit der Verlesung des Vorurteils, das nicht rechtskräftig geworden ist, und dann wird alles noch einmal verhandelt, inklusive der Beweisaufnahme, wozu auch die Zeu­gen­aus­sa­gen gehören.

Von der Tat bis zu einer ersten Verhandlung vor dem Amtsgericht – der Vorinstanz – gehen schon einige Monate ins Land.  Die Berufung verzögert dann noch einmal alles.  Der große Nachteil von Be­ru­fungs­ver­hand­lun­gen ist daher, dass die Fälle in der Regel schon zwei Jahre oder mehr zurückliegen, wobei es auch keine so schwerwiegenden Delikte sind (Diebstahl, Unterschlagung, Drogenbesitz).  Die Folge ist, dass die Zeugen oft so gut wie keine Erinnerung mehr haben, was damals genau vorgefallen ist.  Nach ihren Aussagen in der ersten Verhandlung haben sie in der Regel den Fall innerlich abgehakt, Unterlagen entsorgt usw.  Für die Berufungsverhandlung frischen Polizisten oder Justizbeamte ihre Erinnerungen nach Möglichkeit mit alten Berichten auf, die dem Gericht vorliegen und die der Vorsitzende den Zeugen oft vorhält.  Dann fällt regelmäßig der Satz:  »Wenn das da so drinsteht, wird das so gewesen sein.«  Die Vernehmungen ziehen sich dadurch oft, und mehr als einmal steht man nach der Zeugenaussage auch nicht schlauer da als vorher.

In dem einen Fall ist der Ange­klagte wegen ge­mein­schaft­lich verübten Mordes schon seit vielen Jahren in­haf­tiert.  Bei ihm sind in der Haft­anstalt Drogen gefunden wor­den, und deshalb ist er jetzt bei uns.  Seine Vor­stra­fe spielt für uns tat­sächlich keine Rolle, den­noch wird uns der Mann gleich in der Vor­be­sprechung als »Mör­der« angekündigt.  Zu­hö­rer hät­ten das erst gegen Ende des Prozesses er­fah­ren.  Man merkt zwar, dass er bewacht wird, aber erst kurz vor den Plädoyers werden die persönlichen Verhält­nisse des Ange­klagten erörtert.  Vielleicht ist es doch ganz gut, nicht erst so spät diesen leichten Schock zu erleben.  Anderer­seits stellt es einen sofort ent­sprechend auf den Menschen ein.

Er will von den Drogen nichts gewusst haben, doch das nehmen wir ihm nicht ab und bestätigen das Urteil der Vor­instanz – nur die Höhe des Tages­satzes reduzieren wir.  Davon hat der Mann aber nicht viel, denn ihm ging es um einen Frei­spruch, der ihm den Verlust von Haft­erleich­terungen erspart hätte.  »Jetzt in der Corona-Zeit sind wir fast ständig in unserer Zelle einge­schlossen«, so ein Satz von ihm, der mich nach­denklich macht.  Natürlich – eine Infek­tions­welle im Gefängnis unterbindet man am ein­fachsten so.

*

Im nächsten Fall, der sich über zwei Ver­hand­lungs­tage erstreckt, müssen wir entscheiden, ob die Indizien ausreichen, um einen Zusteller wegen der Unterschlagung von Paketen zu verurteilen.  Es ist schon bemerkenswert, wie viele besonders wertvolle Pakete immer genau zu seinen Dienstzeiten abhanden gekommen sind.  Und obwohl nichts davon bei ihm in der Wohnung gefunden werden konnte, hat ihm das Amtsgericht einen ganzen Haufen davon zur Last gelegt.  Sehr schnell haben wir den Eindruck, dass das vorige Urteil eigenartig ist, da es klarer Beweise entbehrt.

Ein Paket Blankofahrscheine der Bahn, die erst noch bedruckt werden müssten, hat die Polizei aber doch in seinem Keller gefunden.  Dieses lässt sich einer seiner verschwundenen Zustellungen zuordnen.  Er behauptet zwar, dass ein Kollege das Paket bei ihm untergestellt habe, doch das klingt wenig überzeugend, auch wenn gegen diesen ebenfalls Verfahren wegen Unterschlagung von Paketen laufen.  Im Raum steht, dass da auch noch auf andere Art zusammengearbeitet worden sei, doch das lässt sich nicht beweisen.  Immerhin sind wir überzeugt, dass das Paket geöffnet war, sodass der Inhalt dem Angeklagten eigentlich hätte ersichtlich gewesen sein müssen.

Wir reduzieren schließlich die eigenartig hohe Strafe der Vorinstanz (über ein Jahr auf Bewährung) auf lediglich 120 Tagessätze, womit die Strafe im Führungszeugnis auftaucht.  Dafür, dass ihm nur die Unterschlagung eines Pakets ohne wesentlichen nominellen Wert nachgewiesen wird (und der Bruch des Postgeheimnisses), überrascht mich die Höhe der Strafe.  Unterschlagung wird schwerer bestraft, wenn einem die Sache explizit anvertraut worden ist, aber dennoch …

2021-06-12

Berufungen zurückgenommen

Die Corona-Krise hat das Landgericht Berlin fest im Griff.  So viele Prozesse wie nur irgend möglich werden vertagt, verschoben oder durch Verfahrenseinstellungen im Vorfeld beendet.  Nach dem Termin im Februar 2020 bekomme ich nur noch Absagen für das ganze Jahr.

Als Hauptschöffe wird man aber jedes Jahr neu einer anderen Kammer zugewiesen, und im Jahr 2021 komme ich zu einer Berufungskammer.  Das ist keine große Strafkammer, sie ist nicht mit drei Berufsrichtern besetzt, sondern nur mit einem, und in ihr werden nur Berufungen verhandelt.  Das bedeutet, dass die Fälle alle vorher beim Amtsgericht ein Urteil gefunden haben, mit dem einer der Beteiligten (in der Regel der Angeklagte) nicht zufrieden ist.  Und wie uns unser Vorsitz erzählt, hat das Amtsgericht seine Arbeit wohl überhaupt nicht gedrosselt, wodurch Berufungsverhandlungen in gleichem Maße wie ohne Corona anfallen und sich jetzt am Landgericht stauen.  Für mich als Schöffe dort bedeutet dies also, dass ich weniger Ausfälle haben dürfte.  Könnte man meinen.

Bei der ersten Verhandlung dieser Art ist jemand mit seinem Urteil nicht zufrieden, weil er (vermutlich in der Untersuchungshaft) erfahren hat, dass man als Ersttäter in der Regel eine Bewährungsstrafe erhält.  Das hat er bei seiner ersten Tat wohl nicht.  Darum ist er jetzt in Berufung gegangen – allerdings bei seiner zweiten Tat.  Ihm scheint es logisch, dass die Ungerechtigkeit der nicht gewährten Bewährung jetzt wieder ausgeglichen werden sollte.

Die Idee der Bewährungsstrafe bei Ersttätern ist allerdings, dass man dem Täter einen Schuss vor den Bug verpassen will, in der Hoffnung, dass er genügend erschreckt ist, sodass er keine weiteren Taten mehr begeht.  Bei diesem Täter hat offensichtlich auch die vollstreckte Haftstrafe nicht gewirkt.  Da kommt aus Sicht des Gerichts keine Bewährung bei Folgetaten mehr in Frage.  Das hat dem Angeklagten seine Anwältin auch erklärt, doch der Mann ist stur.  Er besteht auf seiner Berufungsverhandlung, erhofft sich Gerechtigkeit in Form von Freiheit durch Bewährung.

Mit Engelszungen redet unser Vorsitz also auf den Angeklagten ein, dass er doch lieber seine Berufung zurücknehmen soll, das Urteil des Amtsgerichts sei wirklich günstig für ihn ausgefallen.  Und nach etlichen Minuten des störrischen Hin und Hers sieht der Angeklagte schließlich ein, dass hier niemand gewillt zu sein scheint, ihm die erhoffte Bewährung zu geben, und zieht seine Berufung zurück.

Für uns als Schöffen ist die Sache damit erledigt, aber natürlich ist das wenig interessant so.  Es ist allerdings für den Steuerzahler besser, denn es drückt die Gerichtskosten, die der Angeklagte vermutlich ohnehin nicht würde bezahlen können.  Wir haben selten reiche Menschen auf der Anklagebank.

*

Beim nächsten Termin bin ich zu morgens geladen.  Entsprechend halte ich mir den Tag frei von Terminen, doch kaum bin ich unterwegs, erhalte ich einen Anruf.  Der erste Prozess findet nicht statt, ich soll bitte erst zum Mittag erscheinen, wenn der zweite Prozess starten soll.  Ich kehre um, fahre mittags wieder los und bin pünktlich zu 12:30 im Gerichtssaal.  Wir Schöffen erhalten unsere kurze Einweisung in den Fall, dann betreten wir den Gerichtssaal, wo der Anwalt des Angeklagten sofort verkündet, dass die Berufung zurückgezogen wird.  Es sei ja keine neue Beweislage entstanden, daher sei auch nicht mit einer Verbesserung in der Berufung zu rechnen.

Ja.  Gut.  Und das hat er gestern noch nicht gewusst?  Und warum ist er überhaupt in Berufung gegangen?  Solche Fragen werden hinterher nur mit Achselzucken beantwortet.

So langsam gewinne ich den Eindruck, dass Berufungsverhandlungen nur ein Gerücht sind.

2020-02-05

Nur die Rechtsfolgen

Ein junger Mann erfuhr von vermeintlich viel Bargeld bei einer älteren Spätkauf-Besitzerin.  Eigentlich mehr um Freundinnen zu beeindrucken entstand die Schnapsidee, ihr dieses Geld zu rauben.  Statt die Tat selbst zu begehen, rief er zwei Freunde hinzu, einer davon bekanntermaßen Intensivtäter, dem er die Durchführung zu- und anvertraute.  Mit dieser Verstärkung ging es zurück zum Spätkauf, in dem sich inzwischen noch ein anderer Mann aufhielt, so dass die Gruppe erst einmal abwartete.

Doch schließlich verließ die Frau ihren Laden und ging zu Fuß nach Hause, wobei sie von unserer Gruppe beobachtet wurde.  Als sie zu ihrer Haustür kam, stellte sie der Intensivtäter, bedrohte sie mit einem Messer, und die Frau begann zu schreien, was ihren Sohn in der Wohnung weckte.  Der Täter brach daraufhin den Überfall ab und rannte davon, doch der Sohn kam aus dem Haus gestürmt, verfolgte und griff ihn sich.

Im folgenden Handgemenge erstach der Täter den Sohn.  Die Gruppe floh, warf das Messer in die Spree und entsorgte die blutbefleckte Kleidung.

Die Frau, die schon vorher nicht ganz gesund gewesen war, erfuhr vom Tod ihres Sohnes und erlitt daraufhin eine schwere Blutdruckstörung, die Hirnblutungen verursachte und sie so sehr verletzte, dass sie heute in einer Art Wachkoma liegt, nur schwach selbständig atmet und rund um die Uhr betreut werden muss.  Den Spätkauf konnte die dezimierte Familie nicht halten und steht heute vor dem wirtschaftlichen Ruin.

In den nächsten Tagen überlegte sich der ursprüngliche Anstifter, dass es bei diesem Ausgang, der ja um ein Vielfaches schlimmer ist, als alles, was er geplant hatte, vielleicht besser wäre, sich zu stellen, und ging zu einem Anwalt, der ihn alsbald zur Polizei schickte.  Er wurde inhaftiert, doch der Messerstecher tauchte unter und verließ vermutlich das Land.

Der Anstifter, der ja selbst nie tätlich geworden war, wurde wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung und wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.  Da er den Überfall organisiert hatte, galt er als Mittäter, auch wenn er keinen Finger gerührt hatte.  Er wurde zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.

Die fahrlässige Tötung hat laut StGB tatsächlich den kleineren Strafrahmen als der Raub, daher fällt diese bei Tateinheit unter den Tisch, was man komisch finden kann.  Aber man muss sich bewusst machen, dass die tödliche Verletzung des Sohnes eher ein tragischer und kaum zu erwartender Unfall war, zumindest aus Sicht des Anstifters, wohingegen der Raub durchaus vorsätzlich und geplant war.

Doch das Landgericht berücksichtigte bei seinem Urteil weder das Geständnis strafmildernd, noch die Tatsache, dass der Anstifter sich selbst gestellt und bei der Aufklärung mitgewirkt hatte.  Sogar Mittäter, die noch nicht bekannt gewesen waren, hatte er benannt.  Also legte er Revision ein und hatte Erfolg.  Der BGH stellte fest, dass die Verhandlung am Landgericht an sich (Beweisaufnahme usw.) zwar fehlerfrei verlaufen war und auch das Urteil insofern korrekt war, wie es die Abläufe darlegte, aber die Rechtsfolge, also die Strafzumessung sei fehlerhaft, eben weil dieser Milderungsgrund nicht berücksichtigt worden sei.  Er verwies deshalb den Fall zurück an das Landgericht, wo jetzt nur die Strafe noch einmal neu beurteilt werden musste.

Soviel zur Vorgeschichte.

Damit landet der Fall also in dem Gerichtssaal, in dem ich als Schöffe sitze.  Den gesamten Ablauf wie oben geschildert erfahre ich im Wesentlichen durch das Verlesen des vorigen Urteils.  Dies wird runtergerattert, wobei sie die Berufsrichter bisweilen abwechseln, um ihre Stimmen zu schonen.  Zwischenfragen sind da nicht wirklich adäquat, schließlich wird nur verlesen, nicht erläutert.  Was man nicht mitbekommen hat, weiß man erst einmal nicht.  Man kann natürlich Details später im Beratungszimmer noch einmal erfragen, wo die Berufsrichter dann notfalls auch noch einmal in das offiziell verlesene Urteil schauen können, aber wenn man dann eine wesentliche Frage an einen schon entlassenen Zeugen nicht gestellt hat, ist es dafür zu spät.

Wer sich jetzt wundert, warum eine Straftat gegen das Leben vor einer (normalen) großen Strafkammer und nicht im Schwurgericht gelandet ist:  Ja, alle Delikte gegen das Leben landen im Schwurgericht, mit Ausnahme der fahrlässigen.  (Mit einem Strafrahmen ohne Untergrenze gilt dieses Delikt auch nicht als Verbrechen.)

Unser Angeklagter macht auf mich einen eher unbeteiligten und furchtbar jungen Eindruck.  Es fällt schwer, ihn sich als Anstifter vorzustellen, der sich Handlanger für einen Raub besorgt, um seine Pläne umzusetzen.  Er wirkt eher wie ein Mitläufer oder sogar wie jemand, der gar nicht so recht versteht, was da genau passiert ist.

Doch das ist nicht an uns zu beurteilen, denn das Urteil der vorigen Kammer steht insofern, dass die Fakten des Falles als rechtskräftig bewiesen gelten.  Wir sollen nur das Strafmaß neu entscheiden.  Manchmal muss man sich als Schöffe auf einen Aspekt konzentrieren.

Wir hören daher auch kaum Zeugen.  Nur die Ermittlungsführerin von der Kripo wird dazu befragt, inwiefern die Informationen, die vom Angeklagten gekommen sind, die Ermittlungen damals unterstützten.

Nach nur drei Stunden Verhandlung inklusive Plädoyers fällt schon das neue Urteil.  Wir sehen die Aufklärungshilfen des Angeklagten tatsächlich als relevant an und entscheiden, dass dies und die Tatsache, dass der Raub beim Versuch endete, zusammengenommen den Fall zu einem »minderschweren Fall der besonders schweren räuberischen Erpressung« machen, wodurch sich der Strafrahmen verschiebt.  (Sonst wäre er bei fünf Jahren aufwärts gewesen.)  »Schwer« ist jeder bewaffnete Raub, »besonders schwer«, wenn die Waffe auch eingesetzt wurde.  Allerdings ist der Zustand der Frau inzwischen noch schlechter als zur Zeit des vorigen Urteils, was wiederum strafschärfend wirkt.

Bei einer solchen Bewertungslage des vorigen Urteils durch die höhere Instanz besteht aber auch die Auflage, dass das neue Urteil nicht härter als das alte sein darf.  Wir reduzieren die Strafe daher nur um vier Monate auf vier Jahre und zwei Monate.

Aber man munkelt bereits, dass die Verteidigung noch einmal in Revision gehen könnte, um das Verfahren hinzuziehen.  Solange es andauert, hat der Angeklagte nämlich das Recht auf Aussageverweigerung in anderen Verfahren (gegen den dritten Komplizen).

2020-01-29

Flaute

Als Hauptschöffe bekommt man in Berlin zum Jahresanfang eine Liste mit Terminen, zu denen man bitte erscheinen möge.  In Wirklichkeit sind das aber die Termine, zu denen die einem zugewiesene Kammer vielleicht eine Hauptverhandlung beginnt.

Ich bin an einer »großen Strafkammer«, d. h. an einer Kammer mit drei Berufsrichtern, die bei Hauptverhandlungen zusammen mit zwei Schöffen sitzt. Solche Kammern verhandeln umfangreichere Verfahren, bei denen auch mit etwas höheren Strafen zu rechnen ist.  Vorkommen können alle Delikte, die noch nicht vorsätzliche Tötungsdelikte (Mord, Totschlag usw.) sind (fahrlässige können aber vorkommen, wie wir im nächsten Beitrag sehen werden).  Entsprechend werden oft eine ganze Reihe von Zeugen gehört, und man nimmt sich auch viel Zeit, um alle Fakten gründlich zu würdigen.

In der Konsequenz werden für die meisten Verhandlung gleich mehrere Termine angesetzt und die Zeugen auf diese Termine verteilt.  Als Schöffe erhält man dann einige Wochen vor dem Prozessbeginn eine weitere Erinnerung, in der auch die jetzt angesetzten Hauptverhandlungstage genannt werden.  In der Regel sind die einzelnen Tage nur einige Stunden lang, weil sich regelmäßig im Verlauf des Prozesses etwas ergibt, das zu einer Umplanung führt.  Bestimmte Zeugen werden dann nicht mehr gebraucht, oder eine Verständigung zwischen den Parteien macht eine Abkürzung der Beweisaufnahme möglich.  Wenn um 9:30 begonnen wird, wird oft schon um 13 Uhr wieder vertagt.  Für mich bedeutet das immer, dass ich anschließend noch zu meinem normalen Arbeitgeber fahre.  Nur wenn es später als 16 Uhr wäre, lohnt es sich bei mir nicht mehr.  (Dieses Zeitlimit entscheidet übrigens der Arbeitgeber.)

Allerdings kommt es eben auch vor, dass zu einem der ursprünglich angegebenen Starttermine gar keine Hauptverhandlung beginnt.  Dann erhält man in Berlin eine Abladung und muss nicht erscheinen.  In anderen Bundesländern erfährt man das als Schöffe erst, wenn man vor Ort ist, oder falls man klugerweise vorher anruft.

Vor einigen Monaten erwähnten die Berufsrichter, dass meine Kammer jetzt einen großen Prozess bekäme, bei dem meterweise Akten zu lesen waren, weil es um Autoschiebung im großen Stil mit vielen Vorkommnissen und Gutachten gehe.  Bei solchen Umfangsverfahren kann man dann mit Dutzenden von Verhandlungstagen rechnen, und zudem mit einer Menge Papier im Selbstleseverfahren, bei dem man zu hause Dokumente lesen muss.  Mit gequältem Grinsen sagte mir der Vorsitzende, wenn ich Glück hätte, wäre ich vielleicht Schöffe bei der entsprechenden Hauptverhandlung.  Dazu muss man wissen, dass eine solche Kammer nicht nur ein einzelnes Paar Hauptschöffen hat, sondern gleich mehrere, um die Last auf die Ehrenamtler besser zu verteilen.  Es hing jetzt also davon ab, zu welchem Termin die Hauptverhandlung starten würde.  Wäre das einer der mir zugewiesenen Starttermine, so wäre ich Teil des Prozesses, sonst nicht.

Ich hatte die andere Art Glück, und es traf wohl ein anderes Paar Schöffen dieser Kammer.  Das Umfangsverfahren blieb mir jedenfalls erspart.

Andererseits war meine Kammer mit diesem Verfahren offensichtlich so gut ausgelastet, dass ich seitdem nur noch Absagen für den Rest des Jahres erhalten habe und wenig zu berichten hatte.  Da ich ab 2020 einer anderen Kammer zugewiesen bin, wird mich die Auslastung meiner alten Kammer aber ab dann nicht weiter stören.

2020-01-20

Miami Vice in Kreuzkölln

Wir hatten diesmal einen Hintermann auf der Anklagebank sitzen.  Ein Herr, der sich nicht selbst die Finger schmutzig macht, sondern der organisiert hat, dass andere die Drogen über die Grenzen und nach Berlin bringen.

Zunächst freut man sich da natürlich, weil man sich denkt, dass es mehr bewirkt, solche Täter zu schnappen, als nur die Klein-Dealer von der Straße.  Aber schnell merkt man, dass auch solche Hintermänner noch nicht die großen Fische sind und nur ihren relativ kleinen Teil beitragen.  Am generellen Drogenschmuggel als Phänomen wird es nichts ändern, wenn wir eine hohe Strafe verhängen, dafür scheint dieses Gewerbe zu dezentral zu funktionieren.

Es ging um einige Kilo Heroin, also nicht unerheblich, aber eben weit davon entfernt, durch das Abfangen der Lieferung Berlin irgendwie drogenfreier zu machen.  Unser Täter wurde nicht direkt bei der Tat festgenommen, sondern Monate später in einem anderen Teil Deutschlands.  Da die Drogen aber in Berlin sichergestellt worden waren, wurde der Fall hier verhandelt.

Und der war durchaus filmreif, falls man denn auf chaotische und unglaubwürdige Geschichten steht mit Leuten, die sich undurchdacht verhalten.

Heroin in Plastiksäcken wurde in den Niederlanden in ein Auto verbaut und dann das Auto nach Berlin gefahren.  Dumm nur, dass die Polizei mit Telefonüberwachungsmaßnahmen ständig auf dem Laufenden und bei der Ankunft noch vor dem vorgesehenen Empfänger vor Ort war, die Schmuggler festnahm und Auto und Drogen konfiszierte.  Nach einigen Stunden suchen waren auch die Drogen gefunden.  Ein letzter Beutel wurde tatsächlich erst noch später gefunden, so gut waren die versteckt, und Drogenspürhunde scheinen inzwischen auch keine Wunderwaffe mehr zu sein, jedenfalls ist das mein zweiter Drogenschmuggelfall, wo Hunde nichts mehr gerochen haben.  Vermutlich eine Frage des Aufwandes beim Verpacken.

Der eigentliche Empfänger, unser Angeklagter, kam jedenfalls am Übergabeort an, nur wenige Sekunden nachdem die Polizei Auto und Fahrer eingesackt und schnell weggebracht hatte.  Da über den Empfänger noch nicht genug bekannt war (z. B. war seine Identität noch nicht geklärt, nur seine Handynummer kannte die Polizei), ließ man den erst einmal laufen.  Durch das unerklärliche Verschwinden von Lieferung und Lieferanten kurz nach einem Anruf (»wir sind jetzt da«) war allerdings genügend Unruhe gestiftet worden, so dass der verwirrte Angeklagte schließlich ausreichend deutlich am Telefon über die Situation mit Dritten sprach.

Man könnte meinen, durch unklare Vorgänge wird man vorsichtiger.  Er schien aber gar nicht an einen Polizeieingriff gedacht zu haben, sondern fragte sich nur, wo seine Lieferanten jetzt wohl seien und warum sie nicht mehr ans Telefon gingen.

Für die Richter (und uns Schöffen) bedeutete das, jede Menge Telefonprotokolle lesen zu müssen.  Dafür wurde das sog. »Selbstleseverfahren« angeordnet, d. h. wir haben stapelweise Papier bekommen, das wir zu Hause durchlesen mussten.  Es ist nicht ganz klar, ob man dafür seine eigentliche Arbeit ausfallen lassen darf (und der Verdienstausfall dann entschädigt wird) oder ob das in der unbezahlten Freizeit gelesen werden muss.  Bei noch größeren Mengen wäre es wichtig, das zu klären; hier blieb es bei einigen Stunden Lesezeit, das ging noch abends und direkt nach der Vertagung der Verhandlung.

Die Telefonprotokolle waren auch die reinste Freude.  Offenbar wollten bestimmte Beteiligte einander nicht verstehen, gaben vor, der Mensch mit der passenden Landessprache sei nicht anwesend usw.  Wir hatten natürlich die deutschen Übersetzungen der Gespräche, schlau wurde man aus dem Gesagten aber nicht immer.  Und teilweise war es geradezu komisch, mit welch naiven Mitteln die Täter verräterische Begriffe zu vermeiden suchten.

So wurde ein Kilo Heroin z. B. als »Auto« bezeichnet.  Das mag so noch angehen.  Wenn jemand am Telefon sagt, er habe ein Auto mitgebracht, okay, das könnte theoretisch bewirken, dass eine mögliche Überwachung wieder eingestellt werden muss, weil keine offensichtlich strafrechtlich relevanten Gespräche geführt werden.  Hier wurde aber von einem halben Auto berichtet, das jemand dabei habe.  Da geht es dann entweder um sehr leichten Schrott oder um etwas, das mit Autos gar nichts zu tun hat.  Die mit den Fällen betrauten Polizisten jedenfalls schienen bei allen verwendeten Schutzbegriffen immer genau zu wissen, was diese bedeuteten.

Gegen unseren Angeklagten liefen bereits mehrere Verfahren.  Um die Sache insgesamt zu beschleunigen, wurde mit Zustimmung aller Seiten eine Regelung gefunden, die es zuließ, dass das andere Verfahren eingestellt und dafür in unserem das Strafmaß entsprechend erhöht wurde.  Das juristisch sauber zu regeln, ist eine Kunst für sich.

Für mich war noch ein wenig unheimlich an dem Fall, dass ich alle beteiligten Orte der Tat in Kreuzberg und Neukölln kannte und eine persönliche Beziehung zu ihnen hatte.  Entweder, es war in der Straße, wo ich mich hin und wieder mit Freunden treffe, oder es war bei einem ehemaligen Arbeitgeber um die Ecke.  Da beginnt man sich zu fragen, was noch so alles in der eigenen Umgebung passiert, das man nie erfährt.

Im Ergebnis gab es meine bisher höchste verhängte Strafe: acht Jahre Haft.

2020-01-14

Wahrheitsfindung light

Man gewöhnt sich mit der Zeit daran, dass man nicht herausbekommt, was tatsächlich passiert ist.  Man ergründet im Hauptverfahren vor allem, welche Punkte beweisbar sind.  Oft ist mehr oder weniger klar, dass das nicht die einzige Tat gewesen sein kann.  (Wer dealt schon nur einmal mit Drogen und wird sofort geschnappt, und wer schmuggelt nur einmal, obwohl er dieselbe Tour nachweislich schon zehnmal geflogen ist?)  Aber es ist eben die einzige nachweisbare Tat.  Und tatsächlich herrscht unter den Richtern, die ich kennengelernt habe, diesbezüglich eine etwas lakonische Stimmung vor.  Klar, man ahne schon, dass der Täter mehr gemacht hat, aber hier wird eben nur diese eine Tat verhandelt.  Alles Nichtbeweisbare bleibt auch emotional außen vor.

Die meisten Angeklagten am Landgericht stehen dem Gericht auch nie direkt Rede und Antwort.  Sie haben alle einen Anwalt, der sie abschirmt und alle ihre Äußerungen filtert, in der Regel vorbereitet.  Es werden dann ›Einlassungen‹ verlesen, in der Regel am nächsten Verhandlungstag, denen man anhört, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt worden ist.  Will man eine spezielle Frage an den Angeklagten richten, hat man in der Regel nie Gelegenheit dazu.

Gut, theoretisch könnte man das als Schöffe im Anschluss an jede Einlassung machen – wir haben ein Fragerecht –, aber es ist klar, dass die Anwälte ihren Mandanten dazu raten würden, nichts Weitergehendes auszusagen, weil es dann ungefiltert und ungoldabgewogen daher käme.  Bei einem längeren improvisierten Schlusswort eines Angeklagten gab es schon entsprechende Gesten vom rechtlichen Beistand, der Redeschwall möge doch abebben.

In einem meiner letzten Fälle war der Unterschied zwischen dem Finden des gerichtsfest Beweisbaren und der Wahrheitsfindung besonders deutlich.

Es ging laut Anklage um schwere Vergewaltigung und Körperverletzung.  Die Verlesung des Staatsanwaltes listete detaillierte Einzelheiten auf, die brutal und unappetitlich waren.  Die genannten Details stammten aus Protokollen von Polizisten, die die Frau befragt hatten, nachdem ihr verletztes Gesicht aufgefallen war und sie gedrängt worden war, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen.

Doch die Frau ist auch die Verlobte des Angeklagten und hat als solche ein Zeugnisverweigerungsrecht, von dem sie nun doch Gebrauch machte.  Das bedeutet, dass auch die Protokolle der Aussagen bei den Polizisten nicht verwertet werden dürfen, und ebenso dürfen die Aussagen der Polizisten über die Vernehmungen nicht berücksichtigt werden.

Es blieb also nur die Körperverletzung als das gerichtsfest Beweisbare, denn von den blauen Flecken gab es Fotos, und Zeugen hatten diese gesehen.

Natürlich ahnt man in so einem Fall, dass mehr passiert sein wird, und zwar in einem Ausmaß, das an Wissen grenzt.  Aber es ist eben doch nicht genug für ein Strafgericht, und somit darf man es nicht ins Strafmaß einfließen lassen.  Und natürlich ist das in der Anklage Geschilderte keineswegs sicher.  Es lassen sich viele Szenarien denken, in denen so eine belastende Aussage gar nicht der Wahrheit entspricht oder Wesentliches (Entlastendes) weggelassen hat.

Die mögliche Zeugnisverweigerung der Hauptbelastungszeugin war schon in der Vorbesprechung zu dem Fall vage Thema.  Dennoch war die Verhandlung auf etliche Tage angesetzt – und musste schließlich drastisch gekürzt werden.  Wir haben uns noch redlich um weitere Zeugen bemüht, aber hin und wieder passt einfach nichts.

So hieß es zum Beispiel, die Nachbarin habe der Geschädigten nach der Tat beigestanden und sie zum Krankenhaus begleitet.  Da man annehmen konnte, dass sie dann auch die Verletzungen bezeugen könnte, wurde sie also geladen.

Die Zeugin, die dann erschien, war auch durchaus die Nachbarin der Geschädigten.  Es stellte sich aber schnell heraus, dass sie die falsche Nachbarin war.  Eine andere muss die gewesen sein, die damals geholfen hat.  Die erschienene Zeugin hingegen war zum Zeitpunkt der Tat verreist gewesen.  Aus den Akten war nicht so genau ersichtlich, wer die richtige Zeugin gewesen wäre.

In Filmen würde dann die Polizei wieder aktiv, die richtige Nachbarin ermittelt und anschließend die Verhandlung mit einer Ladung fortgesetzt.  In der real existierenden Berliner Gerichtsbürokratie war die Polizeiarbeit beendet, diese Akten geschlossen.  Die richtige Zeugin zu ermitteln kam nicht in Frage, es wäre viel zu aufwändig gewesen, der Nutzen zu klein, jetzt, wo sich Täter und Geschädigte ohnehin wieder vertragen hatten.

Im Ergebnis haben wir hier noch eine Weile darüber nachgedacht (und Zeugen gehört), inwieweit der Angeklagte vielleicht im Vollrausch war (eher nicht, obwohl teilweise konsumierte Mengen angegeben waren, die 3,7‰ ergeben hätten) oder zumindest alkoholisch beeinflusst war.

Nach Abwägung aller Umstände kam eine geringe Strafe heraus, die schon durch die bereits abgesessene U-Haft abgegolten war, so dass der Täter direkt auf freien Fuß und in die Arme seiner Verlobten kam.

Man fragt sich, ob es der jungen Familie wirklich gut tat, dass sie wieder vereint war.  Und ob andererseits eine Haftstrafe wirklich irgend etwas verbessert hätte.  Bei derartigen Umständen sind Gerichte vielleicht einfach die falschen Institutionen.